Die Ausgelieferten
sowjetischen »Interessensphäre« zugeschlagen worden. Am 5. Oktober 1939 unterzeichneten die Sowjetunion und Lettland einen Beistandspakt; unter hartem diplomatischem Druck wurden die Letten gezwungen, der Sowjetunion auf die Dauer von zehn Jahren Marine- und Luftwaffenstützpunkte zu überlassen. Das Spiel näherte sich nunmehr dem Ende. Am 16. Juni 1940 forderten die Russen die Bildung einer sowjetfreundlichen Regierung und freien Zutritt in Lettland für eine unbegrenzte Zahl sowjetischer Truppen. Die Letten gaben nach, und am 17. Juni wurde der »freiwillige« Anschluss an die UdSSR vollzogen. Am 14. und 15. Juli wurden noch einmal Wahlen abgehalten, bei denen die Wahlmöglichkeiten allerdings schon vorher kräftig reduziert worden waren. Am 21. Juli folgte der formelle Parlamentsbeschluss über den Anschluss, und am 5. August hörte Lettland auf, ein selbständiger Staat zu sein.
Die Rolle Ulmanis’ während dieser Zeit ist schwer zu durchschauen. In einer Rundfunkrede forderte er seine Landsleute auf, »die mit Einverständnis der lettischen Regierung einrückenden Sowjettruppen freundschaftlich zu empfangen«. Er trat nicht ab, sondern unterzeichnete selbst alle Gesetzesänderungen.
Schlussfolgerungen?
Es ist leicht zu erkennen, dass die Einverleibung der baltischen Staaten für die Sowjets eine gewaltige Erleichterung bedeutete: sie hatten die strategische Lage der Zeit vor der Revolution zurückgewonnen. Jeder wusste, dass der Krieg gegen die Deutschen vor der Tür stand, und die Russen brauchten jetzt nicht mehr zu befürchten, dass Hitler das Baltikum als Aufmarschgebiet benutzte: das Einfallstor nach Leningrad und Moskau war vorerst versperrt.
Es bleibt aber festzuhalten, dass dies ein Akt rücksichtsloser Großmachtpolitik war. Ein mächtiges Land hatte sich eine Reihe kleiner Staaten einverleibt, die es zwar schon früher besessen hatte, die aber inzwischen selbständig geworden waren. Eine Großmacht hatte zugeschlagen, zwar unblutig, aber effektiv. Lettland würde erst sehr viel später selbständig werden.
Dies war das russische Jahr: vom Sommer 1940 bis zum Sommer 1941. Dass der Widerstand gegen den Kommunismus in weiten Kreisen stark war, stellte sich rasch heraus. Die konservativen und faschistischen Gruppen setzten sich zur Wehr, ebenso national gesinnte Elemente in den anderen Parteien. Die Konflikte erreichten schließlich einen dramatischen Höhepunkt. Am 14. Juni 1941, kurz vor Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges, wurden »reaktionäre Elemente« aus Lettland verschleppt: in einer Nacht deportierten die Russen 14.693 Personen, unter denen sich viele bekannte nationale Führer und viele Sozialdemokraten befanden. Diese Menschen wurden in Arbeitslager des Ostens gebracht, viele von ihnen nach Sibirien.
Am 22. Juni 1941 marschierte die deutsche Wehrmacht quer durchs Baltikum. Riga fiel am 1. Juli.
Kurz darauf begannen Säuberungsaktionen großen Stils, die sich hauptsächlich gegen Juden und Kommunisten richteten.
Die Zeit unter den Deutschen hatte begonnen.
Am 29. November 1945, als der Hungerstreik der Balten in Ränneslätt noch andauerte und die Meinungsstürme in der Öffentlichkeit noch in vollem Gang waren, klagte Moskau »reaktionäre schwedische Zeitungen« an, sie würden durch ihre Protestaktionen gegen den Beschluss der schwedischen Regierung, die baltischen Militärs auszuliefern, die Pläne zur Bildung eines westlichen Militärblocks unterstützen. Diese Kampagne ziele auf nichts anderes »als auf eine Isolierung Russlands und die Schaffung eines cordon sanitaire«. »Reaktionäre Kreise haben eine heftige Hetzkampagne gegen die Sowjetunion begonnen. Diese böswillige Kampagne, die den Parolen der Feinde einer friedlichen Entwicklung im Nachkriegseuropa folgt, ist nur ein weiteres Indiz dafür, dass der Prozess der Vernichtung von Nazismus und Faschismus noch nicht abgeschlossen ist.«
Mit welchen Gefühlen erlebte Moskau die schwedischen Meinungsstürme wegen der Balten?
Man weiß es nicht. Man kann auch allenfalls nur vermuten, wie die Russen ihre eigene Situation erlebten. Die Nazis hatten die Sowjetunion überfallen und sie in eine Wüste verwandelt: kein Land der Welt musste unter den Schlägen der Deutschen so leiden wie Russland. Nach dem Krieg hat man versucht, eine Übersicht über die von den Deutschen verursachten Schäden zusammenzustellen. Es wurde errechnet (diese Zahlen werden auch von westlicher Seite bekräftigt), dass im Zweiten Weltkrieg
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