Die Ausgelieferten
veröffentlichten die Legionäre ihre Vermisstenanzeigen und fragten nach dem Verbleib ihrer Familien und Verwandten. Nach außen hin diente das Blatt als Kommunikationsorgan. Während des Sommers und des Herbstes 1945 findet man in den Spalten der Latvju Vards viele Namen baltischer Legionäre, die ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort angeben und nach ihren Angehörigen fragen.
Unter denen, die in Latvju Vards inserierten, befand sich auch Elmars Eichfuss-Atvars. Er schreibt aus der Torfstecherei Martebo, seine Anzeige ist die größte von allen. Er bittet um Angaben über seine Frau Leontine, über seine Cousine, über Bekannte aus Riga und Liepaja. Er schließt mit den Worten: »Ich bitte denjenigen, dem es gelungen ist, ein Exemplar der ersten Auflage meines Buches Vesela tauta – vesela cilvece zu retten, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Der deutsche Titel des Buches lautet: Gesundes Volk – gesunde Menschheit .«
Was gab es noch in Latvju Vards zu lesen?
Die Zeitung erschien während des Sommers einmal, später zweimal in der Woche. Sie hatte das Format einer Tageszeitung, der Umfang schwankte zwischen vier und acht Seiten. Jede Ausgabe enthielt Anzeigen, politische Kommentare, Artikel über Schweden, Berichte aus der Heimat und über die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der Sowjetunion.
Auf die Zustände hinter dem sogenannten »Eisernen Vorhang« kommt das Blatt oft zu sprechen. Am 7., 10. und am 13. Oktober 1945 erscheint eine Artikelserie über die Haltung der Russen gegenüber ihren deutschen und lettischen Kriegsgefangenen, die aus der Feder eines ehemaligen Mitgliedes der lettischen SS-Legion stammt. Die Gefangenen würden, so der Autor, von Lager zu Lager geschickt. Man verspreche ihnen ständig die Freiheit, aber in Wahrheit seien sie einem Verhör nach dem anderen ausgesetzt. Deutsche Arzneimittel seien verboten, nur russische würden akzeptiert. Legionäre in SS-Uniform würden misshandelt. »Nach russischer Auffassung ist jeder SS-Offizier Mitglied der Nazi-Partei.« Es komme zu Hinrichtungen von SS-Männern. In einem Lager außerhalb Rigas versammele man lettische Legionäre hinter Stacheldraht, die Angehörigen stünden draußen und weinten. Eines Tages seien die Internierten verschwunden gewesen, niemand wisse, wohin man sie gebracht habe.
»Alle Lager in der russischen Zone sind dem NKWD unterstellt, und die Kommandanten sind Juden.«
Die Zustände in der Heimat, meint das Blatt, seien jetzt entsetzlich. Am 7. November wird in einem Leitartikel festgestellt: »Die russischen Soldaten und Offiziere haben geplündert, gemordet, geraubt und gesoffen und viele lettische Frauen und Mädchen vergewaltigt. In allen Behörden sitzen Russen, und Juden und Russen halten die besten Posten besetzt.« Am 17. Oktober wird über russische Repressalien gegen die Zivilbevölkerung berichtet; am 3. November wird von Tausenden von »Partisanen« gesprochen, die sich noch in den Wäldern Litauens verborgen halten sollen und jetzt von russischen Truppen gejagt würden.
Solche Berichte, wie die Russen in den baltischen Staaten hausen, wechseln sich mit Analysen des jetzigen und des künftigen Status der baltischen SS-Truppen ab. Am 17. Oktober heißt es in einem Leitartikel, dass die Annexion Lettlands weder von England noch von den USA anerkannt worden sei und dass die Exil-Letten bereit sein müssten, zu einem günstigen Zeitpunkt für die Freiheit und Unabhängigkeit des Landes in den Kampf zu ziehen. Am 29. September findet sich in dem Blatt eine beredte Verteidigung jener Letten, die sich von der SS hatten anwerben lassen. »Jetzt sind diese Letten, die sich in alliierter Gefangenschaft befinden, unsere große Hoffnung. Sie haben eine Mission zu erfüllen. Wir glauben an sie.«
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Wie nahmen die Legionäre diese Agitation von rechts auf? Glaubten sie wirklich, es würde einen Umschwung geben, der Deutsche, Balten, Engländer und Amerikaner im Kampf gegen den Kommunismus einigen könnte, und dass dies bald geschehen würde?
Gewiss, besonders in den deutschen Lagern scheint man überzeugt gewesen zu sein, dass es nur noch Tage dauern würde, bis sich die Ost- und Westalliierten in die Haare gerieten. Es deutet auch vieles darauf hin, dass unter den Balten ähnliche Meinungen herrschten.
Der lettische Leutnant Peteris Vabulis, der später auf dem Kai in Trelleborg Selbstmord beging, gibt in einem Brief vom 8. September 1945 einer solchen Hoffnung
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