Die Ausgelieferten
zwischen fünfzehn und zwanzig Millionen Russen von den Deutschen getötet worden waren. Die Deutschen hatten 15 große Städte, 1710 kleinere Städte und 70.000 Dörfer ganz oder teilweise zerstört, 6 Millionen Gebäude verbrannt oder dem Erdboden gleichgemacht und 25 Millionen Menschen ihres Obdachs beraubt. Sie hatten 31.850 Industriebetriebe, 65.000 Kilometer Bahngleise, 4100 Bahnhöfe, 36.000 Postämter, 89.000 Kilometer Landstraßen, 90.000 Brücken und 10.000 Kraftwerke zerstört. Weiter hatten sie 1135 Kohlengruben und 3000 Ölquellen außer Betrieb gesetzt, 14.000 Dampfkessel, 1400 Turbinen und 11.300 Generatoren mitgehen lassen, 98.000 Kolchosen und 2890 Traktorstationen geplündert; sie hatten geschlachtet oder mitgenommen: 7 Millionen Pferde, 17 Millionen Stück Vieh, 20 Millionen Schweine, 27 Millionen Schafe und Ziegen, 110 Millionen Stück Federvieh. Sie hatten geplündert und zerstört: 40.000 Krankenhäuser, 84.000 Schulen, 43.000 Bibliotheken, 44.000 Theater, 427 Museen und 2800 Kirchen.
Die absolute Genauigkeit von Zahlen lässt sich bezweifeln; auch die Exaktheit dieser Angaben. Wann nennt man eine Landstraße total zerstört? Das Ausmaß der Zerstörungen insgesamt aber dürfte nicht zu bezweifeln sein.
Man muss sich die Lage vielleicht so vorstellen: wie die Russen dem Ansturm der Deutschen im Osten entgegengetreten waren, wie sie ihn abgefangen und schließlich den Spieß umgedreht und die Welle unter ungeheuren Verlusten zurückgetrieben, wie sie in einem völlig zerstörten Land als Sieger dagestanden hatten. Inmitten dieses rauchenden Trümmerhaufens, der einmal das europäische Russland gewesen war, vernahmen sie nun, im November 1945, ein wütendes Gezeter der schwedischen Presse, die der Sowjetunion vorwarf, sie sei unmenschlich, barbarisch, von grausamen Menschen bevölkert, von einem inhumanen System geprägt. Dieses Geschrei kam aus dem kleinen Schweden, das den Deutschen mit Erzlieferungen geholfen hatte, die Kriegsindustrie aufrechtzuerhalten, aus diesem Schweden, das die Transittransporte erlaubt hatte. Die heftige Pressekampagne richtete sich nicht etwa gegen die Tatsache, dass die Deutschen Russland verwüstet oder sechs Millionen Juden liquidiert hatten, sondern allein dagegen, dass die schwedische Regierung beschlossen hatte, ein paar tausend deutsche Soldaten, die von der Ostfront nach Schweden geflohen waren, an die Sowjets auszuliefern.
Unter diesen Soldaten befanden sich 167 Balten, denen offensichtlich das ganze Wutgeheul galt; das Mitgefühl konzentrierte sich auf sie.
Die Frage lautet nicht: wie war es wirklich? Was war richtig oder falsch? Was war Humanität, was Barbarei? Sie lautet vielmehr: wie sah Moskau die Lage, wie nahm es die Anklagen auf, die Entschuldigungen, die Pressekampagne?
Ein heftiger Streit in der schwedischen Öffentlichkeit, ein überraschender Angriff: die Russen müssen die Balten-Affäre als glatte Absurdität empfunden haben. Mit Vernunftgründen allein dürfte diese Affäre für sie nicht zu verstehen gewesen sein, sie mussten glauben, dass mehr dahintersteckte.
Es musste da etwas geben, was sie nur erahnen konnten: eine große kapitalistische Verschwörung, den Beginn einer neuen weltpolitischen Lage, eines von vielen Anzeichen für den Kalten Krieg, der in diesem Sommer und in diesem Herbst ausbrach.
So wird es gewesen sein: die Russen sahen in dem kleinen, neutralen Schweden eine Woge des Russenhasses aufbranden, eine Bewegung, die von ihren Feinden angeführt wurde, sie sahen von neuem einen Gürtel aus feindlich gesinnten und nur formell neutralen Kleinstaaten Gestalt annehmen. So war es auch nach der Gründung der selbständigen baltischen Staaten gewesen. Glaubten die Russen, ein Klima entstehen zu sehen, das Schweden vielleicht für immer vom Osten abschneiden, die Sowjetunion wirtschaftlich isolieren und Schweden für immer an einen feindlichen, atlantischen Block ketten würde?
Wie weit dachten die Russen?
»Um die Pläne zur Bildung eines Westblocks zu begünstigen.«
»Zielt darauf ab, Russland zu isolieren.«
»Es mit einem cordon sanitaire zu umgeben.«
Im April: die Konferenz von San Francisco. Im selben Monat: der neue, harte Kurs Trumans. Im Mai: die lange Unterbrechung der Lend-lease-Hilfe. Im August: die Atombombe. Die wachsenden Spannungen, Polen, Griechenland, der sich rasch verhärtende Ton zwischen den Blöcken.
In Schweden: Ränneslätt.
167 Balten in einem Lager und eine heftige Pressekampagne. War es
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