Die Ausgelieferten
Metallarbeitergewerkschaft, die 31.000 Mitglieder hinter sich hatten, wandten sich »auf das bestimmteste gegen die Kampagne, die unter dem Deckmantel der Humanität von reaktionärer bürgerlicher Seite organisiert« worden sei. Der Werkstattklub Eriksberg sicherte der Regierung telegrafisch seine Unterstützung zu, ebenso die Stockholmer Sozialdemokratische Studentenvereinigung und die Organisation »Clarte«; die Letztgenannten protestierten auch gegen ein Studententreffen im Winterpalast, das einigen »Nazis die Möglichkeit gegeben hat, das Treffen für ihre Zwecke zu missbrauchen«. Sie meinten, dieses Treffen habe klargemacht, was man schon lange im Gefühl gehabt habe, nämlich, »dass eine der wesentlichsten Voraussetzungen für die um die Auslieferung der baltischen Soldaten entstandene Psychose eine nazistisch angehauchte Denkweise« sei, die man »bei lautstarken Bevölkerungsgruppen noch immer antreffen« könne.
Keiner Zeitung war es möglich, alle Gruppen zu benennen, die protestiert oder gegen die Proteste protestiert hatten. Das Klima der Diskussion war jetzt – gelinde gesagt – vergiftet.
Sie war damals neun Jahre alt und las in den Zeitungen von den Balten, die nach Russland geschickt werden sollten, um dort zu sterben. Das empörte sie sehr, sie wachte nachts oft auf und dachte an die Männer in den Baracken, die bald sterben sollten; sie weinte viel. Am Montag entschloss sie sich, einen Brief an den König zu schreiben. Eure Majestät , schrieb sie, ich bin ein Mädchen von neun Jahren, das von den Balten gelesen hat. Ich bitte Euch, lieber König, lasst sie hierbleiben, damit sie nicht sterben müssen . Auf den Briefumschlag schrieb sie: An den König, Stockholm, Schloss . Sie stahl ihrem Vater eine Briefmarke und schickte den Brief noch am selben Abend ab. Sie las alles über die Balten, was sie nur erreichen konnte, und an dem Tag, an dem sie ausgeliefert wurden, weinte sie hysterisch. Als sie erwachsen war und ihre Empörung vergessen oder zumindest verdrängt hatte, stimmte sie bei ihrer ersten Wahl für die högerparti , dies zum Protest. Es sollte ihr letzter sein. Heute ist sie Sozialdemokratin.
C., die damals vierundsechzig Jahre alt und alleinige Eigentümerin eines Hofs war, las in der Zeitung, dass die Auslieferung nunmehr beschlossene Sache sei und dass sie bald durchgeführt werden sollte. Das regte sie sehr auf, aber sie behielt ihre Empörung für sich und schwieg. Der Hof lag an einer Bucht des Mälar-Sees, zehn Kilometer von Uppsala entfernt. C., die damals vierundsechzig Jahre alt war, verfolgte die Debatte aufmerksam, und an dem Tag, an dem die Deutschen ausgeliefert wurden, las sie darüber lange in den Zeitungen. Es war am Vormittag, sie ging auf den Hof hinaus und rief den Verwalter, der sofort kam. Sie zeigte auf den Fahnenmast auf dem Hof und sagte kurz und bestimmt:
– Fällen Sie den Fahnenmast.
Er sah sie eine Weile zögernd an, aber da sie immer wusste, was sie wollte, ließ er sich auf keine Diskussion mit ihr ein. Er holte eine Axt und eine Säge und machte sich sofort ans Werk. Nach fünf Minuten fiel der Mast mit einem trockenen Krachen zu Boden.
C. stand auf der Brücke; sie hatte zugesehen. Nachdem der Mast gefällt war, standen beide stumm da und betrachteten ihn. Es war am Vormittag. Der Fahnenmast hatte ausgedient.
C. ging anschließend wieder ins Haus. Diskussionen über dieses Ereignis waren in Zukunft verboten. Ein neuer Fahnenmast wurde nie mehr aufgestellt.
Viele Protesttelegramme wurden abgeschickt; einige von ihnen hatten gleichlautende Formulierungen. Die Reichsvereinigung Schweden-Deutschland, die hinter den Kulissen tätig gewesen war, aus Rücksicht auf die eigene Vergangenheit aber vermieden hatte, zu sehr ins Rampenlicht zu treten, sandte an ihre Mitglieder folgendes Rundschreiben:
»An die Mitglieder der Reichsvereinigung Schweden-Deutschland! Wichtige und eilige Mitteilung!
Wir bitten jedes unserer Mitglieder, dem Ministerpräsidenten sofort einen telegrafischen Protest gegen die Auslieferung der Internierten zugehen zu lassen. Beispiel:
An den Herrn Ministerpräsidenten, Stockholm.
Unterzeichneter schwedischer Staatsbürger protestiert hiermit auf das ernsteste gegen die völkerrechtswidrige Auslieferung der hier im Lande internierten Soldaten an die Sowjetunion und bittet Sie, den einmal gefassten Beschluss einer erneuten Prüfung zu unterziehen.
Unterschrift
Ferner bitten wir Sie, auch an den König telegrafisch zu
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