Die Ausgelieferten
Tod durch Ertrinken war diesen Menschen lieber als die Rückkehr in die Sowjetunion.
Toland: »Die letzten hundert Tage«
Ich war auf der Krim dabei, aber einen so blutigen Tag wie gestern in Ränneslätt habe ich noch nie erlebt …
Internierter Deutscher in einem Interview vom 30.11.1945
E s spitzte sich alles sehr schnell zu und ging auch sehr schnell vorüber.
Am Mittwoch, dem 28. November, teilte Außenminister Undén dem russischen Gesandten Tschernitschew mit, dass die Balten infolge des Hungerstreiks in so schlechter körperlicher Verfassung seien, dass die schwedischen Ärzte es für angezeigt hielten, sie ins Krankenhaus einzuweisen. Infolgedessen sei die Auslieferung dieser Personen zum gegenwärtigen Zeitpunkt unmöglich.
Am selben Tag begann die vollständige Evakuierung des baltischen Lagerteils. Am Donnerstag war sie beendet, um 13.30 Uhr. Damit hörte das baltische Lager von Ränneslätt auf zu existieren.
Der Abtransport ging in vollkommener Ruhe vor sich. Man trug die Balten auf Tragbahren hinaus, einen nach dem anderen, und fuhr sie mit Krankenwagen in die Hospitäler. Es geschah nichts, niemand setzte sich zur Wehr. Es gab keine Selbstmorde, keine Proteste, keine Selbstverstümmelungsversuche.
Der letzte, der das Lager verließ, war Dr. Elmars Eichfuss-Atvars. Er war auch der einzige Balte, der ohne fremde Hilfe gehen konnte. Man hatte schwedischen Journalisten erlaubt, dem Abtransport beizuwohnen, und sie sahen, wie er als letzter aus dem Halbdunkel der Baracke auftauchte: barhäuptig, wachsam. Bevor er ins Freie hinaustrat, hielt er einen Augenblick inne; er ging dann einen Schritt weiter, taumelte oder stolperte und fiel gegen den Türpfosten. Er schlug mit dem Kopf gegen das Holz, richtete sich aber gleich wieder auf, stützte sich mit dem Arm auf einen Krankenpfleger und ging dann schnell, mit einem Lächeln auf den Lippen, die Treppe hinunter. Seine Stirn blutete; es war aber nur eine kleine Wunde. Er berührte sie nicht. Ein Krankenpfleger kam mit einem Heftpflaster hinzu, Eichfuss hielt still und ließ ihn gewähren.
– Wir haben gewonnen, erklärte er dann den schwedischen Journalisten. Es ist jetzt ganz offenkundig, dass unser Kampf mit einem Sieg geendet hat. Wir werden nicht zusammen mit den Deutschen ausgeliefert werden. Das ist alles, was ich im Augenblick zu sagen habe.
Dann ging er geradewegs an den Journalisten vorbei, durch das Spalier der Wachposten und Krankenpfleger, und stieg in den Krankenwagen ein, ohne sich umzusehen.
Die Balten sollten auf mehrere Krankenhäuser in Südschweden verteilt werden. Die gemeinsam verbrachte Zeit war jetzt zu Ende, aber Eichfuss überwachte seine Landsleute bis zuletzt und erklärte, dass er, dass sie gewonnen hätten.
All dies stand am nächsten Tag in den Zeitungen. Sie schrieben über das Konditionswunder Eichfuss, den einzigen Balten, der noch hatte aufrecht gehen können. Die Zeitungen erwähnten aber noch seinen Sturz. »Der Streikführer, Dr. Eichfuss, verließ das Lager als letzter. Er war aber doch so erschöpft, dass er beim Verlassen der Baracke gegen die Türfüllung fiel, wobei er sich am Kopf verletzte.«
Am Tag darauf, am 30. November 1945, einem Freitag, wurde der deutsche Teil des Lagers von Ränneslätt evakuiert. Nun züngelten die Flammen hoch, die im baltischen Teil des Lagers angezündet worden waren, das Feuer brannte jetzt lichterloh, es brannte in Ränneslätt und Backamo und Grunnebo und Rinkaby, überall, überall.
Die »Cuban«, das russische Transportschiff, lag in Trelleborg unter Dampf; alles war bereit. Die zweitausendfünfhundert deutschen Internierten konnten abtransportiert werden.
Die Räumung des Lagers sollten Militärpolizisten besorgen.
Das deutsche Lager lag am südlichen Ende der Ebene. Zum erstenmal in diesen Novembertagen kam die Sonne zum Vorschein, es war ein wundervoller Morgen, ein paar Grad unter null, die Luft war klar, keine Wolke am Himmel, die Erde leicht mit Rauhreif überzogen. In den frühen Morgenstunden war das ganze Gelände umstellt worden: die Militärpolizisten lagen hinter Bäumen und Büschen verborgen, sie saßen in dem herbstlich gefrorenen Gras, neben sich die Butterbrotpakete. Es herrschte Rauchverbot; die Sonne ging gerade auf. Die Männer waren mit Pistolen und Gummiknüppeln bewaffnet. Es war kurz vor 8 Uhr morgens.
Punkt 8 Uhr betrat Hauptmann Rosenberg das Lager und überbrachte dem deutschen Lagerchef, Hauptmann Kohn, eine Mitteilung. Sie war kurz,
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