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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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ganzen Komplex nicht direkt als eine Seifenblase, die es anzustechen galt: er wollte aber trotzdem alles auf den Punkt zurückführen, an dem die Empfindsamkeit und das Gefühl aufhörten und die Wirklichkeit begann.
    Warum übersetzte er Humanität immer mit Empfindsamkeit?
    Nachdem er das Experiment hinter sich gebracht hatte, wusste er dennoch mehr über seinen eigenen Standort.
    Trotzdem war es nicht so, dass er irgend jemanden beim Falschspiel ertappen wollte. Dies blieb aber als vorläufiges Ergebnis bestehen, als tatsächlicher Kern: hinter den leicht unsachlichen Berichten über sterbende Balten, über Menschen, die sich in entsetzlichen Hungerqualen wanden, verbarg sich eine politische Realität, nämlich die, dass die Berichte der schwedischen Ärzte nicht auf medizinischen, sondern auf politischen Fakten beruhten.
    Am Mittwochnachmittag und am Donnerstagvormittag hatte man die Balten auf Bahren aus dem Lager von Ränneslätt getragen und anschließend mit Krankenwagen in Krankenhäuser gebracht. Aus rein medizinischen Gründen hätte man sie ohne weiteres zusammen mit den Deutschen ausliefern können. Dass erklärt wurde, sie seien für einen Abtransport zu schwach, war ein politischer und kein medizinischer Beschluss. Dies war der letzte desperate Versuch der schwedischen Regierung, Zeit zu gewinnen, hier wurde Undéns Idee verwirklicht, »man müsse das Problem auf dem Lazarettwege lösen«.
    Zu diesem Zeitpunkt machten Regierung und Presse noch gemeinsame Sache, allerdings rein zufällig: die Regierung, um Zeit zu gewinnen, die Presse, um eine Volksmeinung zu schaffen. Unterdessen begann das Spiel, eigenen Regeln zu folgen; der Sturm in der Presse schuf einen eigenständigen Sturm, diese Welle drückte eine andere nach oben. So war es offenbar gewesen: eine Situation, halb fiktiv, verwandelte sich allmählich aus eigener Kraft in eine Realität. Irgendeinem Menschen glitt ein Spiel aus der Hand, danach allen. Es begann ein Feuer zu brennen, das sich immer mehr ausbreitete. Einige Balten in einem Lager wurden nach und nach von einer Situation vorwärtsgetrieben, die niemand mehr kontrollieren konnte.
    Am Ende musste er sich nur noch auf die Zahlen aus seinem Experiment verlassen. Er hielt sich an diese Zahlen, weil sie ihm zuverlässig erschienen, ihre Exaktheit beruhigte ihn und gab ihm die Kraft zum Weitermachen. 2,2 Liter Sauerstoff pro Minute. Altersfaktor: 0,94. 29 Milliliter pro Kilogramm und Minute. Nach 8 Tagen ohne Nahrung eine Verringerung um 11 Einheiten.
    Einer der von der Regierung nach Ränneslätt geschickten Ärzte war Gunnar Inghe. Am Montag wurde er ins Sozialministerium gebeten; dort saßen bereits Per Nytröm, Eije Mossberg und Möller. Später kam noch ein anderer Arzt hinzu, Birger Strandell, und sie wurden beide über die Lage unterrichtet.
    Die Balten würden bald ausgeliefert werden, in Ränneslätt stehe eine Panik unmittelbar bevor, es gebe zwar schon einige Ärzte dort, man brauche aber mehr. Sie sollten sofort hinfahren.
    Zumindest Eije Mossberg war während der Besprechung offensichtlich unangenehm berührt.
    Weitere Direktiven? Sollten die Balten krankgeschrieben werden?
    Nein.
    Während der Bahnfahrt leistete ihnen ein bekannter schwedischer General Gesellschaft, der sie über die Lage orientierte. Er sprach lange und ausführlich über die Fehler, die die sozialdemokratische Regierung gemacht habe, über die Misswirtschaft, die in Schweden herrsche; ferner gab er ihnen eine Übersicht über die Versäumnisse der Regierung in der Balten-Affäre. Sie saßen in seinem privaten Abteil; er sprach, und sie hörten zu.
    Am Nachmittag waren sie in Ränneslätt.
    Für Inghe waren Menschen, die sich im Hungerstreik befanden, kein ungewöhnlicher Anblick. Bei Geisteskranken kam es oft vor, dass sie die Nahrungsaufnahme verweigerten. In seiner Eigenschaft als Kriminologe und Sozialmediziner hatte er derlei schon oft genug gesehen. Er hatte gelernt, dass die Gefahr für den Körper eines Hungerstreikenden relativ gering war, jedenfalls während der ersten zwei oder drei Wochen, dass es aber wichtig war, den Patienten genau zu überwachen.
    Hier lagen sie nun in ihren Betten, still, fast apathisch, während Eichfuss durch die Säle tapste, Dompteur, Hausgeist und Arzt in einer Person. Er sprach, tröstete, überredete und bezwang, redete auf jeden Unschlüssigen ein.
    Er war der einzige, mit dem die schwedischen Ärzte in nähere Berührung kamen, da er über alles, alles zu bestimmen

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