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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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von Backamo befanden sich Anfang Dezember 391 Mann in Hospitälern.
    Die Gesamtzahl der Lagerinsassen, die Anfang Dezember in schwedischen Krankenhäusern gepflegt wurden, lag knapp unter tausend. Die allermeisten befanden sich infolge des Hungerstreiks und der Selbstverstümmelungen in ärztlicher Behandlung.
    Ganz in der Nähe des deutschen Teils des Lagers von Ränneslätt befand sich ein Gleisanschluss, der zur Bahnstation von Lyckeberg führte. Dort wurden die Deutschen in einen Sonderzug verfrachtet. Es waren schließlich 385 Mann. Sie setzten sich apathisch in den Abteilen hin, sahen die letzten einsteigen und beobachteten, wie die Türen geschlossen wurden. Um 17.45 Uhr fuhr der Zug ab. Er umfasste fünfundzwanzig Wagen, war fast vierhundert Meter lang und wurde von zwei Loks gezogen. Keiner der Männer winkte, keiner schien aus dem Fenster sehen zu wollen, sie verließen Ränneslätt für immer.
    Sigurd Strand war Lagerkommissar gewesen, er kannte viele der Deutschen persönlich, mochte viele gern. Was ihm von der Räumung des Lagers im Gedächtnis bleiben sollte, war ein Alptraum aus Rufen, Gebeten, Blut und Umarmungen. Viele der Deutschen hatten noch mit ihm gesprochen, sie waren ihm um den Hals gefallen, sie hatten geweint, er hatte hysterische Ausbrüche gesehen und verbissene Verzweiflung. Alles war ein chaotischer, blutiger Traum gewesen. Jetzt war er zu Ende.
    Die Abfahrt des Zuges beobachtete er vom Fenster der Expedition aus. Es war schon fast dunkel, er war sehr müde, hatte aber keine Lust, gleich nach Hause zu gehen. Einen Tag vorher hatte man die Balten evakuiert, aber diese Räumung war ruhig vor sich gegangen; die Balten sollten in Krankenhäuser gebracht werden, und außerdem war er mit ihnen nie in so enge Berührung gekommen wie mit den Deutschen. Das hier war schlimmer.
    Er sah, wie der lange Zug sich in Bewegung setzte, schneller wurde und in der Dunkelheit verschwand. Danach gab es nichts mehr zu sehen.
    Gegen 22 Uhr kam er nach Hause. Er trug noch immer seine Uniform und seinen Stahlhelm. In der Küche hörte er, wie seine Frau etwas fragte, aber er war zu müde, um antworten zu können. Er ging ins Schlafzimmer und legte sich in voller Montur aufs Bett: in Uniform, Uniformmantel und Stiefeln. Seine Stiefel waren schmutzig, verdreckt, was ihm nach kurzer Zeit einfiel. Er zog sie aus. Nach einigen weiteren Minuten kam auch seine Frau ins Schlafzimmer und legte sich hin. Es wurde dunkel. Er lag in der Dunkelheit, konnte nicht einschlafen; mochte aber auch nicht aufstehen und die Uniform ausziehen. Das Licht vom Fenster hinderte ihn am Einschlafen. Er machte die Augen zu, aber es half nichts. Um 3 Uhr ging er in die Küche und trank Milch. Um 5 Uhr schlief er ein.
    Am 1. Dezember waren die Zeitungen voll mit Artikeln über das Feuer, das einst im Lager der Balten zu glimmen begonnen hatte. Am 1. Dezember konnten alle Blätter von dem Blutbad in Ränneslätt und den Blutbädern in Backamo, Grunnebo und Rinkaby berichten.
    Am 1. Dezember 1945 war der Untersucher elf Jahre und drei Monate alt. Die Post kam immer erst nachmittags aus Skellefteå, und er pflegte unten an der Milchbrücke in Sjön, Hjoggböle, zu warten. Sie warteten und warteten, aber dann tauchten endlich die Lichter am Horizont auf, wurden größer, kamen über die Ebene auf sie zu; wenn in der Mitte ein bläulich schimmerndes Licht zu sehen war, wussten sie, dass es der Postbus war, der ihnen Briefe und Zeitungen brachte. Sie standen neben den hohen Schneewällen in Sjön, Hjoggböle, Västerbotten, und warteten ungeduldig auf den Bus. Dieser kam näher, hielt an, und dies war der Mittel- und Höhepunkt des Tages. Der Fahrer stieg aus, er trug eine braune Tasche mit einem Schloss und einem Metallgriff. Er sagte nichts, sondern stieg gleich wieder ein. Der Bus startete, die Lichter verschwanden, und sie standen stumm zu einer kleinen Menschentraube zusammengedrängt und sahen Bus und Lichter in der Ferne verschwinden.
    Dezember 1945 im Küstengebiet von Västerbotten.
    Inzwischen war es wieder dunkel geworden, und sie gingen gemeinsam zu dem Bauernhof hin, der als Poststation diente und wo die Post verteilt wurde. Sie gingen den Berg hoch, betraten die Küche; dann wurde die Tasche aufgeschlossen, man legte die Post auf die Holzbank, für jeden Haushalt einen kleinen Stapel, und er konnte seinen Stapel nehmen und gehen. Er hatte nur wenige hundert Meter zu gehen, an einer kleinen Kapelle vorbei, durch den Zaun, dann war er zu

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