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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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Sauerstoffaufnahme in Litern pro Minute 2,1. Auf Milliliter pro Kilogramm und Minute umgerechnet 29. Einfacher ausgedrückt: in körperlicher Hinsicht war er mit einem sechzigjährigen Mann von mittlerer Kondition zu vergleichen.
    Sein tatsächliches Alter: 32 Jahre.
    Die Sauerstoffaufnahme hatte sich innerhalb einer Woche von 40 auf 29 Milliliter pro Kilogramm und Minute verringert.
    Es gab eine exakte Zahl: er hatte sich um elf Einheiten verschlechtert.
    Diesem Bericht sei ein weiterer hinzugefügt. Er betrifft einen Traum, den er in der Nacht zum Montag hätte, zu Beginn des fünften Hungertages. Er wachte auf, richtete sich im Bett auf und wusste, dass er hellwach war, obwohl der Traum noch Wirklichkeit zu sein schien. Draußen regnete es, das Fenster war ein helles Rechteck, allmählich begriff er, dass er nicht mehr träumte. Was er erlebte, war ein Zustand eisiger konzentrierter Angst, aber kein Traum, nicht einmal die Nachwirkung eines Alptraums. Er meinte, ein Gefühl der Abgeschiedenheit zu erleben, abgesondert zu sein, und dieses Gefühl war definitiv und total; der Weg zurück zu den anderen schien ihm versperrt. Er war von der Bahn der Wirklichkeit abgekommen und befand sich jetzt in einem anderen Kreislauf. Einen Augenblick dachte er daran, seine Familie zu wecken, aber der Gedanke schien absurd: wie sollte er mit ihnen sprechen können? Sie befanden sich noch immer auf der Welt, er dagegen nicht, er bewegte sich von ihr weg.
    Er sah seine Lage als geographische Skizze: eine Landschaft, von hohen Mauern umgeben, vom Inland abgeschirmt, offen nur zum Meer hin, wo es keinen Menschen gab.
    Dieser Traum war sehr klar und deutlich, frei von sentimentalen oder pathetischen Momenten, er war erfüllt von einer sachlichen und trockenen Verzweiflung, mit der er nichts anzufangen wusste, da sie für ihn ein völlig neues Erlebnis war. Er stand auf, überlegte kurz, ob er sich ein Butterbrot holen sollte. Dann fiel ihm das Experiment wieder ein, und er wies den Gedanken von sich. Dann ging er auf die Haustreppe hinaus und setzte sich, es änderte sich aber nichts. Er war hellwach, daran war nicht zu rütteln, aber die Verzweiflung verließ ihn trotzdem nicht. Er versuchte, dieses Gefühl in den Griff zu bekommen, indem er sich einredete, das Ganze sei nur eine intellektuelle Methode, sich als einem Problem zugehörig zu empfinden, das er untersuchen wollte, aber weil das nicht den Tatsachen entsprach, blieb die Verzauberung bestehen; die Furcht ließ ihn nicht los. Anschließend ging er ins Badezimmer, zog sich den Schlafanzug aus und stellte sich in die Badewanne. Er stellte die Dusche an und spülte den Körper mit eiskaltem Wasser ab. Dennoch blieb er Gefangener seines Traums. Später lag er noch lange wach, starrte zum Fenster hinaus, und ganz allmählich wich der Traum. Er zog sich langsam zurück, nach innen, wurde kleiner und kleiner, zu einem Punkt, einem Nichts; schließlich verschwand er völlig.
    Darauf schlief er ein. Am folgenden Morgen schrieb er den Traum nieder. Er war ohne Pointe, ein bisschen literarisch. Er wird nur der Vollständigkeit halber wiedergegeben.
    Wer sich für den Mechanismus des Hungerstreiks interessiert, dürfte ihn nur als Kuriosum betrachten können.
    Den Bericht über das Experiment schrieb er in der folgenden Woche nieder. Er kehrte immer wieder zu ihm zurück, las ihn aufmerksam durch, prüfte die Zahlen, wobei das nie ohne ein greifbares, aber zugleich irrationales Gefühl der Scham geschah. Die physischen Voraussetzungen waren bei ihm und den Internierten gleich gewesen, aber wie stand es mit den psychischen? Was wusste er über sie? Was wusste er über ihre Gefühle und Ausgangspunkte, die sie damals gehabt hatten, als sie in ihren Baracken lagen, an die Decke starrten und glaubten oder zu wissen meinten, die Auslieferung könne jeden Tag erfolgen und dass sie bald in einem Sklavenlager dahinsiechen oder sterben oder liquidiert werden würden – was wusste er über ihre Situation? Man konnte zwar beobachten, wie Mangel an Nahrung einen Körper beeinflusst, aber wie wirkt das Fehlen von Hoffnung auf einen menschlichen Organismus ein? Wie, genau wie?
    Und wie stand es mit seinem Ausgangspunkt? Rein instinktiv wollte er ja zeigen, dass die Presseberichte falsch gewesen waren, dass die Volksmeinung gelenkt und düpiert worden war von den immer dramatischeren Berichten, aber wie hatte sich das auf ihn selbst und seine Widerstandskraft ausgewirkt? Vielleicht betrachtete er den

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