Die Ausgelieferten
schien. Sie vergaßen ihn später niemals mehr.
Sie untersuchten die Balten und stellten bei allen einen vergleichsweise guten Gesundheitszustand fest, wenngleich ihr psychischer Zustand sehr schlecht war. Einige von ihnen sprachen ein ausgezeichnetes Deutsch; sie versuchten, sich den schwedischen Ärzten verständlich zu machen, sich gleichsam zu entschuldigen. Sie sprachen fast immer von ihrer Angst vor dem Sterben. Sollten sie ausgeliefert werden, meinten sie, sei der Tod ihnen gewiss. Sie sprachen von der Sowjetunion und von ihrer Hoffnungslosigkeit. »Schickt man uns in die Sowjetunion, bedeutet das für uns alle den Tod. Das wissen wir genau. Wir haben es gehört. Wir wissen es.«
Die Untersuchungen verliefen wie gewöhnlich. Brustkorb, Herz, Blutdruck, Hals.
Nach einigen Tagen war die Lage schon etwas komplizierter. Die Balten lagen in ihren Baracken – nicht angenehm, sie dort zu wissen, in einem Krankenhaus wären sie besser und sicherer aufgehoben. Die Ärzte telefonierten von Ränneslätt aus mit dem Sozialministerium und brachten ihre Argumente vor.
Das Ministerium stimmte sofort zu. Gunnar Inghe hatte das Gefühl, dass die Männer im Ministerium den Bericht und die Empfehlung der Ärzte mit großer Freude und Erleichterung aufnahmen.
– Erst später, lange Zeit später, begriffen wir, dass wir als Ärzte einen gewaltigen Vorsprung vor allen anderen hatten. Wir hatten die Macht, den politischen Mechanismus lahmzulegen, politische Beschlüsse zu desavouieren. Damals haben wir das aber nicht gemerkt. Wir sahen die Balten bloß als medizinische Fälle an.
Den stärksten Eindruck hat auf Inghe ein Gespräch mit Eichfuss gemacht. An das Gespräch erinnert er sich nur dunkel, aber die Situation steht ihm noch klar vor Augen: sie saßen in einer der Baracken, an einem Tisch vor dem Fenster, es war Abend. Die Scheinwerfer draußen waren eingeschaltet. Eichfuss sprach fast die ganze Zeit, seine Stimme war leise und beherrscht. Im selben Raum lagen acht baltische Soldaten. Das Zimmer war halbdunkel, die Männer lagen still und reglos in den Betten, einige schliefen, keiner bewegte sich, das Zimmer schien zu atmen, langsam und geheimnisvoll. Die Männer hätten Puppen oder Leichen sein können, so reglos lagen sie da. Eichfuss redete. Durch das Fenster konnte man den Stacheldraht sehen, die Scheinwerfer, das Licht, Schatten, die Wachposten sein konnten.
An alles das erinnert sich Inghe. Es muss kurz vor der Räumung des Lagers gewesen sein.
Und das Krankschreiben? Es war aus medizinischen Gründen geboten. Tatsächlich? Soviel ich weiß, ja. Gab es keine Direktiven? Ich habe jedenfalls keine erhalten. Nein, daran kann ich mich nicht erinnern.
Eine andere Stellungnahme. In seinen Memoiren »Im Dienst des Reichs« berührt der damalige Chef des Verteidigungsstabes, General C.A. Ehrensvärd, das Problem in einigen Sätzen.
»Am 27. November schickte die Regierung durch die Medizinalbehörde einige Ärzte nach Ränneslätt, die beauftragt waren, sämtliche Balten krankzuschreiben. Diese Maßnahme, die man aufgrund der heftigen Meinungsstürme gegen die Auslieferung getroffen hatte, gab der Regierung die Möglichkeit, der russischen Gesandtschaft mitzuteilen, dass diese Internierten nicht ausgeliefert werden könnten. Eigentümlicherweise wurde die Maßnahme nicht mit den zivilen Behörden abgesprochen, so dass es hinterher einigen Ärger gab.«
Die Deutschen hatten mit ihrem Hungerstreik später begonnen als die Balten; sie erzielten aber eine größere Wirkung, weil sie auch den Genuss von Wasser untersagten. Nach Aussage der behandelnden Ärzte war ihr Zustand »schlimmer als der der Balten«.
Im Fall der Deutschen konnte aber von einem generellen Krankschreiben keine Rede sein, weil es an den politischen Indikationen fehlte. Sie wurden ohne Umwege ausgeliefert.
17
In Jalta hatten Churchill und Roosevelt sich bereit erklärt, sowjetische Staatsbürger aus ihren jeweiligen Besatzungszonen auszuweisen, und die meisten Angehörigen der Wlassow-Armee, die in den Westen geflohen waren, wurden nach und nach den Russen übergeben – was bei den angloamerikanischen Bewachern oft mit Gewalt verbunden war. In Lienz in Österreich weigerten sich einige Kosaken, die evakuiert werden sollten, die Lastwagen zu besteigen. Sie bildeten einen schützenden Ring um ihre Familien und kämpften mit bloßen Händen gegen die britischen Soldaten. Mindestens sechzig Kosaken wurden getötet, andere sprangen in die Drau. Der
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