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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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Hause. Zuerst las er die Comics: »Karl Alfred«, »Phantom« und »Dragon«, dann die Sportseite und zum Schluss den Rest. Er lag bäuchlings auf dem Fußboden der Küche, die Zeitung war vor ihm ausgebreitet, hinter ihm bullerte der große Herd.
    Am 1. Dezember 1945 gab es zwei Haupt-Schlagzeilen. Ganz oben stand: »Heß gibt zu, den Gedächtnisverlust simuliert zu haben.« Schräg darunter war in kursivem Fettdruck zu lesen: »Erstecht uns doch! schrien die Deutschen.« Darunter waren auch Bilder. Sie waren zwar nicht tagesfrisch, aber immerhin in Ränneslätt aufgenommen. Die Bildunterschrift des ersten Fotos war kurz und sachlich. »Dr. B. Strandell untersucht einen der hungerstreikenden Balten.« Das Foto stellte zwei Männer dar. Einer von ihnen lag im Bett, seine Hände hatte er auf der Brust gefaltet; dies war offensichtlich der Balte. Er war braungebrannt und mager, hatte den Kopf zur Seite geneigt und machte einen ernsten Eindruck. Der Arzt, der Mann im weißen Kittel, saß auf einem Stuhl neben dem Bett; seine rechte Hand hatte er auf die Brust des im Bett liegenden Mannes gelegt.
    Der Arzt lächelte schwach.
    Das zweite Foto zeigte Baracken des Lagers von Ränneslätt: zwei große Baracken, die durch einen Stacheldrahtzaun getrennt waren. Man konnte fünf Drähte erkennen, die zwanzig bis dreißig Zentimeter voneinander entfernt waren. Daneben stand ein Wachposten, der auf dem Foto genau zwei Zentimeter groß war.
    Die Zeitung hieß Norra Västerbotten .
    Den Bericht über Ränneslätt und die anderen Lager las er aufmerksam durch. Es erschien ihm merkwürdig und unwirklich, dass dies alles sich in Schweden ereignet haben sollte, aber da auch Deutsche beteiligt waren, glaubte er es schließlich. Er hatte den Verlauf des Hungerstreiks während der ganzen Woche genau verfolgt, und der jetzt erreichte Höhepunkt erschien ihm durchaus logisch. Was aber noch lange in seinem Bewusstsein haftenbleiben sollte, waren weder der Hungerstreik noch die Selbstverstümmelungen, sondern die dahinterstehenden Motive. Jenseits der Verzweiflung zeichnete sich wie eine dunkle, drohende Wolke das ab, was die Internierten so entsetzt hatte, wogegen sie gekämpft und demonstriert hatten; sie waren in den Hungerstreik getreten und hatten sich selbst verstümmelt, um dieser drohenden Gefahr zu entgehen: dem großen, grausamen Russland. Ein Land und ein Volk, die allein schon durch ihr bloßes Vorhandensein soviel Verzweiflung auslösen konnten, mussten furchtbar sein. Wenn ein Mensch zum Messer greift und sich selbst verstümmelt, um einer Gefahr zu entgehen, muss diese Gefahr entsetzlich groß sein. Schlimmer als der Tod, schlimmer als die Hölle.
    Und dies sollte lange, lange in ihm haftenbleiben: das Gefühl des Schreckens und der Furcht vor Russland und dem Kommunismus, die Angst vor diesem großen Land im Osten, vor diesem unbestimmten Etwas, wohin die Sklavenschiffe einst gefahren waren.
    Er sollte dies noch lange mit sich herumtragen, zunächst bewusst, später – als er erwachsen war und andere Faktoren und Einsichten sein Denken prägten – sollten die Ursprünge seiner Angst verwischt, verdünnt werden, aber die Wertvorstellungen als solche blieben erhalten. Wenn er später als Erwachsener jene Wertvorstellungen zu untersuchen oder freizulegen versuchte, die ihn lenkten oder banden oder leiteten oder blockierten, war folgendes einer der diffusesten, aber zugleich verlockendsten Ausgangspunkte: das Licht am Horizont, der kleine blaue Scheinwerfer, die Schlagzeile in der Zeitung, das Gefühl der Angst angesichts der Angst der Deutschen und Balten, das Gefühl einer heimlichen Identifikation und Solidarität. Er glaubte, er würde nie fähig sein, das Netz freizulegen, das ihn steuerte und lenkte, aber irgendwo musste er anfangen, und folglich begann er hier.
    Am 7. März 1967 sah er Ränneslätt zum erstenmal.
    Es war ein wundervoller Frühlingstag. Er kam mit dem Wagen, parkte, sah sich zwischen den Baracken um und setzte sich schließlich vor einem großen, zweistöckigen, weißgestrichenen Gebäude auf die Treppe. Der Schnee war noch nicht weggetaut, nur auf den Straßen war er geschmolzen; in den Erdmulden lagen jetzt tiefe kleine Seen mit Schmelzwasser. Der Schnee war sehr weiß, das Wasser glitzerte, die Sonne wärmte angenehm. Es war wirklich Frühling, ein klarer, milder, ein frischer Frühlingstag, die Luft war völlig still, keine Autos zu sehen, von Süden her, wo die Stadt und die Häuser lagen, drangen

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