Die Ausgelieferten
schien auch hinter dem Gebrauch des geopferten Menschen durch den Menschen ein Muster zu geben, ebenso hinter dem Gebrauch des Arguments »der geopferte Mensch«. Ein logisch erkennbares Muster. Der Tod Lapas ließ sich als politisches Argument verwenden, ebenso der Tod in einem Sklavenlager. Der Tod an der Berliner Mauer war ebenfalls verwendbar. Dies alles symbolisierte klar und mit journalistischer Schärfe den Vorteil eines politischen Systems. Diese Tode hatten klare pädagogische Verwendungsmöglichkeiten, da sie die Vorzüge eines politischen Systems und die Nachteile eines anderen auf brillante Weise illustrierten.
Andere Tode am unteren Ende der Prioritätenskala, die nicht so deutlich und folglich politisch weniger brauchbar waren, konnten deshalb als uninteressant abgetan werden. Anonyme Juden, denen man die Einreise verweigert hatte: ein uninteressanter administrativer Tod. Im Land X in Südamerika starben fünftausend Menschen an Krankheiten oder am Hunger, weil sie in einem Land mit einem korrumpierten politischen System gelebt hatten, das vom Land Y unterstützt wurde. Aus denselben Gründen war auch die Kindersterblichkeit hoch. Diese Tode waren uninteressant und diffus. Diese Menschen starben langsam, ohne laute Schreie, ohne äußerlichen Brutalitäten ausgesetzt zu sein, ohne die Fähigkeit zu besitzen, ihrem Tod einen spektakulären Anstrich zu geben. Und da wir nun einmal bestimmt haben, dass Brutalität durch Maschinengewehre und Arbeitslager repräsentiert wird, hat der Tod dieser Menschen keinen Symbolwert, der Tod dieser Menschen ist untauglich, wenn auf die Verworfenheit eines politischen Systems hingewiesen werden soll.
Er dachte, es ist doch höchst merkwürdig, dass wir allmählich gelernt haben, politische Herrschaftsverhältnisse nach ästhetischen Grundsätzen zu bewerten, als wären wir Theaterkritiker und keine Menschen. Er selbst schien immer wieder in die gleichen Fallen zu tappen, weil er sich ständig zu den dramatischen Höhepunkten hingezogen fühlte, die durch eine Tragödie gekennzeichnet waren, und weil er gerade Tragödien mit einem Zynismus auszuwählen liebte, der den Mechanismus des Spiels um keinen Deut klarer werden ließ.
Hier saß er nun auf der Haustreppe und ließ sich von der Sonne bescheinen. Hier lag die Ebene, hier lag einmal ein Lager. Er war durch zweiundzwanzig Jahre von diesen Menschen getrennt, er würde nie begreifen, was hier geschehen war. Weil er aber nie versucht hatte, das Leiden dieser Menschen im nachhinein zu teilen, würde es ihm vielleicht gelingen, den Mechanismus der Tragödie zu beschreiben: hier war eine Möglichkeit, hier lag seine Chance. Die Ebene war weiß, die Sonne warm, hier lag einmal ein Lager, in Morgennebel gehüllt, voller Schlamm, Schnee, Matsch, Stacheldraht, Verzweiflung, Blut, Novemberkühle. »Mag die Geschichte auch in einem gewissen Sinn die Quelle aller Politik sein, so sind die Lehren der Geschichte doch so zweideutig, dass der bereits eingenommene Standpunkt oft der entscheidende ist, wenn alternative geschichtliche Deutungsmöglichkeiten zur Wahl stehen.« Ja ja, schon möglich, aber dachte er selbst auch so? Wie sollte er das ihm vorliegende Material verwerten, seine Nachforschungen, alle Interpretationsmöglichkeiten? Was sollte er tun? »Man sollte sorgfältig darauf achten, dass man aus jeder persönlichen Erfahrung nur die Lehre heraussucht, die sie zu vermitteln imstande ist – und dort auch stehenbleibt; damit man nicht der Katze gleicht, die sich auf einen heißen Herd setzt. Diese Katze setzt sich niemals mehr auf einen heißen Herd – was nur begrüßenswert ist. Sie setzt sich aber auch nie mehr auf einen kalten Herd.«
Zehn Monate nach einem Absprung, im Raum umhertaumelnd wie ein Astronaut, vielleicht war er unterwegs, auf dem richtigen Weg. Die Sonne brannte. Hier lag einmal ein Lager.
III DER AUSZUG DER LEGIONÄRE
1
Ü ber den ersten Eindruck. Vom Fenster ihres Dienstzimmers im zweiten Stock des Lazaretts von Kristianstad sah die schwedische Krankenschwester Signe B., wie die Militär-Krankenwagen auf dem Hof hielten und wie die Balten ausgeladen wurden. Es war der 29. November, 22 Uhr. Ihr war gesagt worden, dass die Internierten sich in schlechter körperlicher Verfassung befänden – wegen des Hungerstreiks –, und sie hatte sich darauf vorbereitet, den Patienten Bluttransfusionen, intravenöse Nährlösungen und Tropf-Infusionen zu geben. Sie sah jedoch, dass diese Vorbereitungen
Weitere Kostenlose Bücher