Die Ausgelieferten
schwache Geräusche herüber, keine Menschen; über Ränneslätt schien die Sonne weich und warm. Er setzte sich auf die Holztreppe vor dem Haus, holte eine Zigarette hervor, steckte sie an, legte den Kopf in den Nacken und sah über das Gelände hin, das er schon so gut kannte, obwohl er es heute zum erstenmal sah.
Hier lag einmal ein Lager.
Er saß auf der Treppe des Hauses, in dem die baltischen Offiziere untergebracht gewesen waren. Hier hatten sie gewohnt. Hier hatte Lapa Selbstmord begangen, hier hatten sie konferiert, hier hatten sie gelebt, hier. Links, auf der anderen Seite der Straße lag der Wald, in dem die Baracken der Balten gestanden hatten: aber die Baracken hatte man inzwischen abgerissen, nur der Wald war noch da. Der Stacheldraht war ebenfalls verschwunden. Weit weg, auf der anderen Seite des Feldes, sah er die wenigen übriggebliebenen Baracken der Deutschen: die meisten ebenfalls abgerissen. Dort hatten sie gelebt. Dort hatte man die Baracken geräumt: das Chaos aus Blut, Schreien, Gebeten, Tränen, Verwünschungen und Knüppelschlägen, das letzte blutige kleine Nachspiel des Krieges, hatte sich dort drüben auf schwedischem Boden abgespielt. Und jetzt Sonne. Diese warme, großzügige, weiche Frühlingssonne, die die Ereignisse in weite Ferne zu rücken schien, die sie zu Geschichte machte, zu geträumter Wirklichkeit.
Hier lag einmal ein Lager.
Zehn Monate waren vergangen seit dem Junitag in einem aufgelösten, verwirrten und heißen Jackson: vor zehn Monaten war er einmal auf einem Bürgersteig stehengeblieben und hatte begriffen, dass seine Gefühle nichts als sentimentale Abstraktionen waren, dass der Marsch immer an ihm vorbeiziehen würde, wenn er nicht selbst seine Marschrichtung änderte. Er hatte den Absprung gewagt, war in die Luft hinausgeschwebt, und er schwebte noch immer, wie ein schiffbrüchiger Raumfahrer; er suchte nach etwas, was er noch nicht klar formulieren zu können schien. Er wusste nicht einmal genau, worauf er hier Jagd machte, hier, in der Ebene, in Ränneslätt. Was wollte er eigentlich?
Man schrieb das Jahr 1967, es war das Jahr der Proteste, das Jahr der Desertionen, das Jahr der Demonstrationszüge, das Jahr der Eierwürfe, das Jahr der zertrümmerten Botschafts-Scheiben, das Jahr des zivilen Ungehorsams. Hier in Ränneslätt hatten Militärs und Bewacher öffentlich gegen etwas protestiert, was sie als inhuman empfanden, gegen die Regierung, der sie dienten: das war 1945 gewesen, das auch ein Jahr des Protests gewesen war. Hier hatte ein Offizier seinen Stahlhelm weggeworfen und war seiner Wege gegangen. Hier hatten viele Menschen gegen ausdrückliche Befehle gehandelt. Der Untersucher hatte sich immer gewünscht, die deutschen Wachposten in den Konzentrationslagern hätten ebenso gehandelt: nicht blind gehorcht, sondern nach anderen Grundsätzen gehandelt, nach den Grundsätzen der Humanität.
Dennoch war er nicht zufrieden, sondern suchte ständig nach etwas anderem, das gleich daneben liegen musste, das sich unter Umständen als noch wichtiger erweisen könnte. Was wollte er finden? Glaubte er vielleicht, dass auch die Menschlichkeit von ideologischen Grundsätzen gelenkt wurde?
Vielleicht war dies der Punkt, der ihn noch immer zögern ließ. Er hatte während der vergangenen Jahre mit ungestümer Kraft erlebt, wie sein Leben und seine Wertvorstellungen gesteuert und dirigiert wurden. Er hatte sich freizumachen versucht, obwohl er genau wusste, dass dies eine Sisyphusarbeit mit einem unsicheren Ergebnis war. Hier war ein Ansatzpunkt. Nach welchen Maßstäben gibt man den Objekten seines Mitgefühls Vorrang? Es war für ihn, wie für fast alle Schweden, selbstverständlich gewesen, seine Empörung auf die Ermordung einer Handvoll Menschen an der Berliner Mauer zu lenken, statt seine Aufmerksamkeit darauf zu richten, dass in Indonesien in einem Jahr eine halbe Million Kommunisten umgebracht worden waren. Die politische Sklaverei hatte er als schwerwiegender empfunden als die wirtschaftliche. Dies in Frage zu stellen, war nur der Ausdruck eines neuen und merkwürdig lächerlichen Konformismus. Dass die Humanität auch ideologischen Prinzipien folgte, erlebte er dennoch als Verrat; bis zu jenem Zeitpunkt jedenfalls, als er das Gelände zu strukturieren begann und entdeckte, dass dies nicht für alle galt.
Hier starben Menschen. Hier wurde ihr Tod als politisches Argument benutzt. Hier wurde ihr eventueller künftiger Tod als politisches Argument benutzt. Es
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