Die Ausgelieferten
physiologischen Auswirkungen des Hungers auf den menschlichen Organismus zu beobachten. Im Lauf seines Lebens hat E. Erfahrungen auf vielen Gebieten erworben, unter anderem kennt er die Technik des Hungerstreiks, er weiß, wie weit man ihn treiben kann, ohne dass er das Leben der Streikenden gefährdet, etc. »Die Leitung des Hungerstreiks der Balten in Schweden durch Eichfuss kann man als Beweis dafür ansehen.« Hier bekommt E. Gelegenheit, seine ungewöhnlichen Erfahrungen zu verwerten.
Ein religiöses Zwischenspiel. Im Januar 1942 wurde E. leicht im Nacken verwundet und ins Krankenhaus von Schitomir gebracht. Dort bekam er Flecktyphus, eine Krankheit, die in den Lagern grassierte, magerte bis auf 49 Kilo ab, wurde gesundgeschrieben und kehrte im September nach Riga zurück. Dort widmete er sich der Aufgabe, Priester und Ärzte für eine religiöse Sekte zu gewinnen. Auf der Grundlage der Liebes-Botschaft des Korintherbriefs wollte er Lutheraner, Katholiken und Baptisten in einem Bekenntnis vereinigen und um einen Gott scharen. Die Bewegung soll ein Emblem erhalten, das E. in einem Buch aufgezeichnet hat und nun skizziert: ein Wappenschild mit zwei Feldern und zwei Kreuzen, einem roten mit einem weißen darin. E. weist darauf hin, dass ein rotes Kreuz allein nicht genüge, weil das Internationale Rote Kreuz sein Amt schlecht verwaltet habe. In dem zweiten, darunterliegenden Feld findet man einen mit einem Kreuz (möglicherweise auch mit einem Schwert) gekreuzten Anker.
Auf direktes Befragen erwidert E. – wenn auch erst nach einigem Zögern –, dass auch Juden in seiner Sekte willkommen seien. Die Griechisch-Orthodoxen erwähnt er jedoch nicht.
Dieses religiöse Zwischenspiel war jedoch nur von kurzer Dauer. Bereits im Oktober 1942 diente er als Arzt in der deutschen Luftabwehr. Im März 1943 wurde er in das 1. Lettische Baubataillon eingegliedert. Bei Kriegsende befand er sich im Kurland-Kessel. Im Mai 1945 flüchtete er von Liepaja mit einem Schlauchboot nach Gotland.
Während des Gesprächs wurde der Kontakt zwischen Eichfuss und dem Schweden immer besser. Eichfuss schien von der Aufmerksamkeit geschmeichelt zu sein, die man seiner Person entgegenbrachte; er sprach eifrig, aber präzise. Nebenbei flocht er Charakterschilderungen über einige seiner Mitgefangenen ein; Gailitis nannte er einen »ungebildeten, unbegabten und gefährlichen Nazi«. Eichfuss brannte darauf, die Zusammensetzung der baltischen Gruppe zu erläutern, weil »jede Gruppe versucht, sich in möglichst gutem Licht darzustellen, aber man kann nicht alles glauben«. Besonders beredt setzte er sich für eine Gruppe jüngerer Soldaten im Alter von siebzehn bis zwanzig Jahren ein. Diese seien zwar zwangsweise eingezogen worden und hätten deutsche Uniformen getragen, man müsse sie aber als Zivilisten betrachten. Die Gruppe aus Kurland, die er selbst am besten kenne, weil er mit diesen Männern auf Gotland interniert gewesen sei, könne man zwar nicht als Zivilisten im üblichen Sinn bezeichnen, weil diese Soldaten alle in der deutschen Armee gedient hätten, man solle aber davon ausgehen, dass sie »nach dem Tod Hitlers von ihrem Treueid entbunden seien und folglich nicht mehr der deutschen Wehrmacht angehörten«.
Auf dem Tisch hat Eichfuss einige Bilder von seiner Frau, seinen drei Kindern und einer Tante stehen. Neben dem Foto seiner Frau steht eine Amateuraufnahme von einer Krankenschwester. »Sie hat mir sehr geholfen.« Als er im Lauf des Gesprächs davon unterrichtet wurde, dass man ihn isolieren wollte und dass Blockbildungen unter den Balten in Zukunft verboten werden sollten, akzeptierte er das, er schien aber zugleich seine Rolle als »Menschenführer« behalten zu wollen – er drohte damit, dass die Balten auch ohne ihn den Hungerstreik wiederaufnehmen könnten. Sein Plan lief darauf hinaus, durch wiederholte Fastenperioden die Auslieferung ad infinitum zu verschieben. Seine Familie hielt er für tot. Er hatte inzwischen mit einer lettischen Krankenschwester Beziehungen aufgenommen; sie soll ihm dabei helfen, das Buch über die neue Religion zu schreiben, die Europa einen und zu einer »gesunden Menschheit« machen soll. Er bittet herzerweichend, an ihren Wohnsitz verlegt zu werden. Als er hört, dass man ihn nach Kristianstad bringen will; wird er wütend und spricht von Gestapo-Methoden etc.
Das Gespräch hatte nun schon zwei Stunden gedauert. Er verlangte, der anwesende Polizist solle den Raum verlassen, aber diesem Wunsch
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