Die Ausgelieferten
Krisen der Kriegszeit mit einer enormen Popularität herausgegangen, die er infolge der Balten-Affäre wieder verlor. Es ist leichter, seine Popularität wegen einer Entscheidung zu verlieren, an die man glaubt, als sie wegen einer Sache, die man für zweifelhaft hält, aufs Spiel zu setzen; und hier zweifelte er, hier konnte er sich nicht auf seine Überzeugung berufen. Wie er es auch anstellte, er würde immer der Verlierer sein. Und er verlor. Ich glaube, dass die Balten-Affäre die eigentliche Ursache dafür war, dass er innerlich zerbrach. Er ging als ein anderer Mensch aus ihr hervor und starb ein halbes Jahr nach der Auslieferung.
Was die letzte Behauptung betrifft, steht Tage Erlander mit seiner Meinung nicht allein: dass Per Albin Hansson an der Baltenfrage zerbrach. Wer den schwedischen Ministerpräsidenten im Frühjahr 1946 aus der Nähe erlebte, konnte sehen, wie schwer er an der Auslieferung zu tragen hatte, schwerer, als man erwartet hatte: immer wieder kehrte er zu den Balten zurück, als könnte er dieses Problem nie loswerden.
Manchmal erinnerten ihn auch andere daran.
Er fuhr oft mit der Straßenbahn nach Hause, am Abend, in der Dämmerung. Jeder kannte ihn ja, und mindestens zweimal wurde er in der Straßenbahn von Unbekannten angepöbelt: »Baltenmörder!« Er hatte sie ignoriert, kein Wort gesagt, sich nicht umgedreht. Er erzählte seinen Freunden von diesen Zwischenfällen. Diese fragten ihn aber nicht, was er darüber dachte. Sie sahen es dennoch.
Er starb am 6. Oktober 1946 an einer Straßenbahnhaltestelle in Ålsten.
Am 8. Dezember 1945 trat der Auswärtige Ausschuss zusammen, um zum zweitenmal in diesem Jahr die Auslieferung der Balten zu erörtern. Anwesend waren auch der Kronprinz, Prinz Gustav Adolf, der Ministerpräsident sowie Außenminister Undén als Berichterstatter.
Von diesem Gedankenaustausch gibt es einerseits einige vage Erinnerungsfragmente von einigen der Anwesenden, andererseits ein sehr detailliertes persönliches Protokoll, das während der Zusammenkunft von dem Rechtspolitiker Ivar Anderson angefertigt und unmittelbar danach in Reinschrift festgehalten wurde. Der folgende Bericht beruht auf diesem Protokoll.
Der Außenminister leitete die Zusammenkunft mit einer kurzen Orientierung über die politische Lage ein. Am 5. Dezember hatte der russische Minister eine Note übergeben, in der er die Behauptung zurückwies, der Aufschub des Abtransports beruhe auf einer russischen Verzögerung. Das sei nicht der Fall, wie er meinte. Ferner hatte er sich gegen »die organisierte Kampagne« in schwedischen Zeitungen gewandt, eine Kampagne, die sich gegen die Sowjetunion richte. Undén war den Anschuldigungen entgegengetreten und hatte das Ergebnis der jüngsten Überlegungen der Regierung mitgeteilt, der Gespräche vom 4. Dezember. Das bedeutete, dass sich die schwedische Regierung bereit erklärte, den Transport »innerhalb der nächsten Zeit und beim Vorhandensein zugänglicher Tonnage« durchzuführen. Tschernitschew hatte Undén dann mitgeteilt, ein russisches Lazarettschiff in Helsinki werde 300 Internierte abholen können. So stand die Angelegenheit im Augenblick.
Die Regierung wollte dem Auswärtigen Ausschuss jetzt Gelegenheit geben, sich zu äußern.
Östen Undén selbst wollte vor Beginn der Debatte dreierlei zum Ausdruck bringen. Erstens: die noch verbliebenen deutschen Internierten sollten so schnell wie möglich abtransportiert werden. Sein zweites Anliegen betraf die Balten. Was sie anging, hätte die Regierung eine Reihe verschiedener Möglichkeiten diskutiert. Direkte Anfragen an die Russen wegen der Behandlung der Balten halte er nicht für angezeigt, da die schwedische Regierung ja schon früher bei ihren Gesprächen mit den Russen »vorausgesetzt« habe, dass die Balten human behandelt werden würden. Deshalb könne man jetzt nicht mit Bedingungen kommen und Erklärungen verlangen – im Falle einer Weigerung seitens der Russen müsse man dann nämlich bereit sein, die ganze Aktion abzublasen. Drittens: hier ging es um den Vorschlag, man solle den Abtransport ohne vorherige Anhörung der Russen vorläufig verschieben. Für ihn sei das keine Lösung, dies werde nur Komplikationen schaffen. Man müsse die ganze Frage auch in einem größeren politischen Zusammenhang sehen – das Prestige und die Machtstellung der Sowjetunion gehörten ebenfalls ins Bild, ihr großer Ehrgeiz und ihre Empfindlichkeit auch, besonders aber das russische Misstrauen gegen alles,
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