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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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protestierte ja auch, und das nicht eben leise. Wir hatten aber noch genug von dem Finnland-Aktivismus des Militärs, von seinem Russenhass, seiner Deutschfreundlichkeit. Wir hatten kein großes Vertrauen zu unseren Militärs – und sie keins zu uns.
    – Ist der Regierung der Beschluss nicht trotzdem schwergefallen?
    – Ursprünglich nicht. Erst der Proteststurm brachte die Komplikationen. Ich selbst reagierte nach einem leicht erkennbaren Muster: ich reagierte aus Protest gegen eine öffentliche Meinung, der ich schon früher begegnet zu sein glaubte, in anderen Fragen, ich reagierte auf eine Russenangst, die unnuanciert und hysterisch war und merkwürdigen Gesetzen folgte.
    – War dies eine gefühlsmäßige Reaktion?
    – Für mich sind alle politischen Fragen nie ganz frei von Gefühlen gewesen. Hinter jedem Beschluss stehen Emotionen, so ist es auch hier gewesen. Für mich war es natürlich, gegen all jene zu kämpfen, die die Russen als Barbaren hinstellen wollten, als brutale, unfähige und gefährliche Menschen. Ich hatte mich daran gewöhnt, mich diesen Menschen zu widersetzen, diesen Russenhassern. Sie waren meine natürlichen Feinde. Sie waren für mich die Verkörperung der Reaktion.
    So kam es, dass Ernst Wigforss seine gewaltige Autorität hinter den Beschluss stellte, die baltischen Soldaten auszuliefern. Sein letzter Beitrag zur Staatsratssitzung am 4. Dezember war eine kurze Frage.
    Er sagte:
    – Soll eine kleine Minderheit, die seit Urzeiten antirussisch eingestellt ist, das Handeln der Regierung in dieser Frage diktieren dürfen, sollen wir uns dieser Minderheit ein weiteres Mal beugen?
    Der dritte, Per Albin Hansson.
    Er war sowohl in der Koalitionsregierung als auch im rein sozialdemokratischen Kabinett Ministerpräsident gewesen; er wurde für den Beschluss und seine Durchführung verantwortlich gemacht. Er starb ein halbes Jahr nach der Auslieferung, und seine Rolle in dem Geschehen lässt sich schwer erkennen, weil niemand genau weiß, wie er dachte und was er angesichts dieser seiner letzten großen politischen Krise empfand.
    Einer von denen, die den Einsatz Per Albin Hanssons in der Balten-Affäre aus nächster Nähe miterlebten, war Tage Erlander, sein Nachfolger auf dem Posten des Ministerpräsidenten.
    – Als die Baltenfrage plötzlich aktuell wurde, im November, war Per Albin noch immer der Denkweise der Kriegsjahre verhaftet, was ihn zugleich stützte und ihm Grenzen setzte. Er hatte sich daran gewöhnt, in jeder Frage so zu agieren, als müsste er das Land aus einer politischen Klemme befreien. Das Wichtigste war für ihn geworden, das Vertrauen des Auslands in unsere Politik aufrechtzuerhalten. Es war wichtig zu zeigen, dass wir uns hierzulande nicht unter Druck setzen ließen, dass wir eine starke, handlungsfähige Regierung besaßen, die in ihren einmal gefassten Entschlüssen konsequent blieb. In dieser Denkweise der Kriegszeit war er ein für allemal fixiert. Vielleicht ahnte er für die Nachkriegszeit neue Krisen voraus, in denen es weiter auf das in Schweden gesetzte Vertrauen ankommen würde, auf einen starken, intakten Regierungsapparat.
    – Es wäre also ein Zeichen der Schwäche gewesen, wenn man der öffentlichen Meinung nachgegeben hätte?
    – Ja, er muss es so empfunden haben. Wäre die Lage entspannter gewesen, hätte es keine Pressekampagne und keinen Entrüstungssturm gegeben, wäre er vielleicht eher bereit gewesen, Kompromisse zu schließen und seinen Standpunkt zu revidieren. Es ist denkbar, dass die Balten dann im Land hätten bleiben können. Jetzt aber richtete der Proteststurm eine psychologische Wand vor ihm auf: er glaubte beweisen zu müssen, dass Schweden eine handlungsfähige Regierung besaß, dass Schweden nicht von Pressionen der politischen Rechten gelenkt wurde. Hätte man nachgegeben, so wäre damit erwiesen gewesen, dass Schweden ohne Regierung war, und damit wäre das Vertrauen verlorengegangen. Folglich wagte er nicht, dem allgemeinen Protest nachzugeben. Dieser war einfach zu stark. Dies war die paradoxe psychologische Situation, in der er sich befand.
    – Hat er nie gezögert oder an der Richtigkeit seiner Handlungsweise gezweifelt?
    – Ich weiß, dass er sich mit Zweifeln quälte. Was Per Albin betrifft, kann sich keine andere Belastung der Kriegszeit mit der Balten-Affäre messen. Keine andere Frage hat ihm mehr zugesetzt. Er stellte seine eigene Einstellung in Frage, hütete sich aber, dies bekannt werden zu lassen. Er war aus den

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