Die Ausgelieferten
Podium starrten, ohne den Blick wenden zu wollen, einander nahe, nur zur Hälfte in der sicheren Dunkelheit geborgen, aus der unsere Erregung erwuchs. Und wie dann die Gefühle wach und wechselseitig wurden: ihre uns entgegengebrachte Verachtung, diese Verachtung, die so total war, dass sie wie ein Gummiball zwischen Podium und Saal hin- und herzuspringen schien. Exzellenzen – ich stelle das zentrale Motiv dieses Erlebnisses besonders heraus: wie die Verachtung unter uns ausgetauscht und immer stärker wurde, wie sie mich schließlich aus dem Lokal vertrieb.
Exzellenzen: ich betrachte mich als einen freien Menschen. Rationale Argumente taugen aber nicht dazu, ein Gefühl zu vernichten: es ist nach wie vor da, deutlich und überwältigend, aus einer Situation geboren, die Situation steuernd, lenkend wie eine Riesenhand. Eine Bewegung, ein Strom aus Tatsachen, Ereignissen, Motiven, Gegenständen.
Exzellenzen, schrieb der Untersucher, inmitten dieser Wolke aus Ereignissen, Fakten und Gefühlen fasse ich meinen für Sie bestimmten Bericht zusammen. Am folgenden Morgen fuhr ich nach Sidcup in Kent, in einen dieser Vororte großer Städte, in die die Welt ihren Überdruss ablädt. Das Wetter war sonnig, aber es blies ein heftiger Wind, vor Land’s End war ein britischer Tanker gestrandet, der über die englische Südküste Öl ausspie, ich stieg aus dem Zug, ich war völlig einsam: früher Morgen eines Karfreitags in Sidcup, Kent, dort, wo Edvard Alksnis wohnte. Ich war zu früh angekommen und ging in die Kirche, weil sie in der Nähe des Bahnhofs lag. Diesmal war es nicht wie am Karfreitag in meiner Kindheit: kein sentimentaler und nostalgischer Tag voller Trauer und Traurigkeit, kein Tag, an dem kleine Kinder lernten, die Traurigkeit des Stellvertreters stellvertretend zu tragen. Diese Predigt hätte gut als Wahlrede für die Labour-Partei gelten können, wenngleich sie nicht so glatt war wie die Rede eines Wahlkämpfers und auch keine direkten parteipolitischen Akzente enthielt. Nach dem Gottesdienst stand ich auf der Kirchentreppe im Sonnenlicht, ging dann durch die Stadt und fand schließlich Edvard Alksnis. Er trat aus der Tür, kam mir leicht hinkend entgegen, und ich erkannte ihn nach den Fotografien sofort wieder.
Als er im Herbst 1946 nach England kam, war er noch Rekonvaleszent, die Lähmung hatte noch nicht ganz nachgelassen. Er lag noch monatelang in englischen Krankenhäusern. Dort lernte er eine Krankenschwester kennen, heiratete sie und bekam zwei Töchter. Er wohnt in einem reihenhausähnlichen Gebäude. Er kann noch immer nicht richtig gehen, hat braune Augen, und man sieht sofort, welches das echte ist. Er lächelt oft, aber manchmal scheint sein ganzes Gesicht zu zittern, wie bei einem Kind, dem man eine allzu große Anstrengung zumutet. Seine Töchter besuchen englische Schulen, er selbst ist jetzt englischer Staatsbürger, spricht aber ein holpriges und teilweise unverständliches Englisch. Er ist sehr freundlich und völlig offen; er hat eine unzerstörte, fast jungenhafte Vitalität und lacht gern.
Auf einem Regal steht ein Foto, das ihn als jungen Leutnant zeigt. Leichte Ähnlichkeiten lassen sich noch feststellen.
Während der ersten Zeit in England konnte er nicht arbeiten. Er bekam eine Art Invalidenrente, weil man seinen Fall für einen Sonderfall hielt. Bei medizinischen Vorlesungen diente er oft als »Demonstrationsobjekt«. Seine Frau ist Lettin; zu Hause sprechen beide Lettisch miteinander. Nach etwa einem Jahr wurde er von der lettischen Botschaft eingestellt, saß als eine Art Hausmeister im Vestibül, später verkaufte er Bücher in einer kleinen Buchhandlung. Dann war es auch mit diesem Job aus, und er begann, lettische Übersetzungen von deutschen und englischen Romanen zu veröffentlichen, was anfänglich einigen Gewinn abwarf. Die Balten in England zogen jedoch bald weiter und wanderten in die USA und nach Kanada aus. Der Kundenkreis wurde immer kleiner, und damit war auch dieses Unternehmen gescheitert.
Im Augenblick arbeitet er nicht. Es geht immer auf und ab; sieben Jahre lang war er Angestellter einer Firma, die Waschmaschinen verkaufte, aber jetzt bat er keine Arbeit. Die Lähmung ist nie ganz verschwunden, aber er sagt, es gehe ihm gut. Er hat ein Haus. In einem Schaufenster in Sidcup werden einige Häuser zum Verkauf angeboten (es ist eine Maklerfirma, die auf diese Weise inseriert), und nach diesen Preisen zu urteilen dürfte sein Haus zwischen 4200 und 5800 Pfund
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