Die Ausgelieferten
wert sein. Als er Lettland verließ, hatte er dort zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, zurücklassen müssen. Er zeigt mir Fotos; der Sohn ist heute 29 Jahre alt. Er schreibt nicht mehr regelmäßig an seine Kinder in Lettland.
Ins Baltikum will er nicht mehr zurückkehren, wie Sie sicher verstehen werden.
Von der politischen Lage in Sowjetlettland hat er nur verschwommene Vorstellungen. »Etwas besser wird es heute schon sein, aber gut natürlich nicht.« Nein, er würde nie zurückkehren können. »Obwohl sie mich bestimmt ganz gern wiederhätten, weil ich kein gutes Aushängeschild für sie bin.« Nach einer Weile wird er von seiner Tochter unterbrochen, die ihm leicht hitzig sagt, er könne doch gar nicht wissen, wie es heute in Lettland aussehe, er sei ja zweiundzwanzig Jahre nicht mehr dort gewesen. Er antwortet ausweichend und sieht sie unruhig an. Die Tochter scheint ihn ständig mit einer eigenartigen Mischung aus Nähe und Abstand, aus Anhänglichkeit und Skepsis zu beobachten.
Bei der letzten Wahl hat er für Labour gestimmt.
Er selbst hat eine vielseitige militärische Karriere hinter sich. Vor 1940 war er Offizier in der lettischen Armee. 1940 wurde er Offizier der russischen Armee, und von 1943 bis 1945 war er Offizier in der deutschen Wehrmacht.
Er ist der Meinung, dass das schwedische Wachpersonal in den Internierungslagern die Deutschen klar bevorzugt habe. Das führt er auf die Deutschfreundlichkeit des Offizierskorps zurück, ferner darauf, dass viele Schweden durch Blutsbande mit Deutschland verbunden sind sowie auf die Stellung Deutschlands als Großmacht (wovon nach Kriegsende natürlich keine Rede mehr sein konnte); weiter meint er, dass die Schweden an baltischen Fragen grundsätzlich nicht interessiert seien und dass die Deutschen einen Kulturkreis repräsentierten, eine Art zu denken, die den Schweden näherstünden als das Baltikum. Ausgesprochene Hassgefühle gegen die für die Auslieferung verantwortlichen schwedischen Regierungen hat er nicht, er meint vielmehr, dass sie recht geschickt taktiert hätten. Er behauptet, jetzt in Sicherheit zu leben, er hat keine Angst mehr, er lebt in Freiheit.
In welcher Freiheit? Welche Freiheit besitzt er? Was kann er tun, was nicht? Er definiert seine Freiheit nicht, fährt aber fort, seine Lage zu schildern. Mit seinen Nachbarn spricht er nur selten, er hat nur wenige Freunde, alles Letten, mit denen er gelegentlich zusammenkommt. In der kleinen Stadt, in der er lebt, ist er ein fremder und anonymer Vogel. Keiner seiner Nachbarn weiß etwas über seine Vergangenheit und über die Ursache für sein Hinken oder warum er ein künstliches Auge hat. Unter ihnen hat er keine Freunde. Er lebt in einem kleinen Kokon in Sidcup, Kent, lebt dort mit seiner Frau und seinen Kindern und denkt immer seltener an das, was damals in Schweden geschah. Er lebt. Er hat überlebt. Freiheit? Er hat es nie für notwendig befunden, das Bild zu revidieren, das er sich von seiner eigenen Geschichte gemacht hat, von seinem Leben, den damaligen Ereignissen. Er weiß ja, wie sich alles zugetragen hat. Sein Kommunistenhass ist selbstverständlich tief eingewurzelt. Er ist etwas älter als fünfzig, das Jahr in Schweden hat für alle Zukunft über sein Leben entschieden. Vor dem Haus, auf der Straßenseite, liegt ein kleiner Garten von vier mal sechs Metern; er ist von einer Hecke umgeben; man sieht ein paar kleine Bäume und ein kleines Blumenbeet.
Sein Haus ist zweistöckig, die Zimmer sind sehr klein und eng, aber hübsch eingerichtet. Hier lebt er.
Für einige Minuten verwickelt er sich mit seiner Tochter in eine politische Diskussion. Er hat ganz nebenbei einige Bemerkungen über diese unwissenden jungen Leute fallenlassen, die gegen die Vietnam-Politik der USA demonstrieren, und sie opponiert sofort auf ihre vorsichtige Art. »Was soll das«, sagt sie, »ich laufe zwar nicht hinter jedem Demonstrationszug her, aber dennoch darf ich doch wohl sagen, dass ich die Politik der USA und ihre militärische Anwesenheit in Vietnam für falsch halte?« »Jaja«, sagt er und lächelt ein wenig hilflos, »ja, ja, jaha.« Sie sprechen oft über Politik, reden aber oft aneinander vorbei, weil keiner den Ausgangspunkt des anderen versteht. »Unsere Vorgeschichten sind zu verschieden«, sagt er leise, »das ist natürlich klar, ja.« Das Mädchen kennt natürlich seine Geschichte, hält sie aber offenbar für absurd oder schrecklich oder unbegreiflich, sie sagt, dass sie sie
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