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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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eigentlich nicht für sehr interessant halte.
    Sie wird im nächsten Jahr das Abitur machen.
    Wie lebt er? Wie hat er damals gewählt? Hat er überhaupt gewählt? Das Gespräch dauert vier Stunden, gibt aber keinen Aufschluss. Ist er glücklich? Er hat einen Hund, lacht oft, es ist ein schöner Tag, obwohl es sehr windig und kühl ist an diesem Karfreitag 1967. Was für ein Leben lebt er? Kann er diese Frage selbst beantworten? Was versteht er unter Freiheit? Was ist es gewesen, was ihn, auf die Spitze des Bleistifts zu, vor sich hertrieb?
    Exzellenzen, schrieb der Untersucher, es ist heute fast unmöglich zu glauben, dass seine Geschichte sich wirklich zugetragen hat. Es ist möglich, dass er sie nicht einmal selbst für wirklich hält. Das einzig Wirkliche sind die Folgen der Verwundung, die er sich mit dem Bleistift beigebracht hat: das blinde Auge, seine Gehbehinderung, die relative Isolierung, das Leben, das für immer einen veränderten Lauf nehmen sollte.
    Hat sich das gelohnt? Bereut er?
    »Nein«, sagt er mit einem überzeugten Lächeln, »warum sollte ich mein Handeln bereuen? Ich lebe hier doch in Freiheit?«

5
    E ichfuss wurde ständig isoliert gehalten, streng bewacht. Auf einem Stuhl neben der Tür saß Tag und Nacht ein Polizist. Die Tage und Nächte wurden aber lang, Eichfuss war freundlich, und es hatte manchmal den Anschein, als wäre eine Bewachung völlig überflüssig.
    – Hier sitzen sie, sagte Eichfuss an einem Tag im Januar, hier sitzen sie immer mit einer Pistole bewaffnet und glotzen mich an. Wenn ich nachts aufwache, sehe ich sie auf dem Stuhl schlafen, wenn ich wollte, könnte ich sowohl den Wachposten als auch mich erschießen. Das wäre eine Kleinigkeit, wenn ich es wollte.
    Ihm standen jedoch noch immer Mittel und Wege offen, sich der Umwelt mitzuteilen.
    Am 11. Januar schmuggelte er aus dem Krankenhaus von Kristianstad einen Brief hinaus, der an Stockholms-Tidningen geschickt wurde. Dieser Brief wurde am 17. Januar veröffentlicht. Er enthielt eine Übersicht über die Vorgeschichte der Balten und einen Appell an alle schwedischen Gegner der Auslieferung, die jetzt schon seit langem schwiegen.
    – Was ist aus der öffentlichen Meinung geworden? schrieb er. Wo ist das Gefühl der schwedischen Ärzte für Menschlichkeit geblieben? Wo sind die Männer der schwedischen Kirche, die unseren Glaubenskampf so mutig unterstützten? Wo ist die schwedische Jugend, die uns so viele Sympathietelegramme geschickt hat? Wo sind die schwedischen Frauen?
    Im selben Brief erklärte er:
    – Um die Herzen und Augen des schwedischen Volkes ein weiteres Mal zu öffnen, werde ich meine Hände zum Zeichen unserer Glaubens- und Willenskraft verbrennen und den Schmerz noch erhöhen, indem ich heißes Wasser auf die Wunden gieße. Ich erkläre hiermit, dass ich mich schon in der Neujahrsnacht 1946 dazu entschlossen habe, für den Fall, dass die schwedische Regierung ihr Versprechen nicht hält, den Internierten eine individuelle Prüfung zuteil werden zu lassen. Dieses Brandopfer bin ich meinem Volk und meinen baltischen Kameraden schuldig, denn ich habe den Worten eines Vertreters der schwedischen Regierung Glauben geschenkt und somit das Vertrauen der Balten missbraucht. Durch dieses Brandopfer möchte ich auch der Schmach entgehen, dass meine Hände gefesselt werden, denn ich glaube nicht, dass man sich an meinen Wunden vergreifen wird.
    Am Tag darauf, am 12. Januar, verbrannte er seine Hände wie folgt: er hielt sie unter warmes Leitungswasser und ließ dann Dr. Silwer rufen, der seine Hände untersuchte. Er entdeckte an beiden Händen eine schwache Rötung, als hätte Eichfuss sie in zu heißem Wasser gewaschen; Brandwunden oder Brandblasen entdeckte er aber nicht. Am Tage darauf war die Rötung verschwunden.
    Am 20. Dezember verlegte man alle Balten, außer Eichfuss, vom Lazarett in Kristianstad ins Lager Gälltofta in der Nähe von Rinkaby. Man teilte es ihnen vorher mit, und sie wurden sofort unruhig, obwohl ihnen von allen Seiten versichert wurde, sie hätten nichts zu befürchten, im Augenblick sei eine Auslieferung nicht aktuell. Um 14.15 Uhr betraten vierzig bewaffnete Polizisten die geschlossene Abteilung der Balten. Einer nach dem anderen wurde hinausgeführt. Unter strenger Bewachung wurden sie eingekleidet, jeder bekam einen Rucksack. Am Ausgang hatten sich die Ärzte und die Schwestern in einer Reihe aufgestellt, um sich von ihnen zu verabschieden. Die Internierten wurden einzeln zu ihnen

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