Die Ausgelieferten
hingeführt, links und rechts stand je ein Polizist; man erlaubte ihnen, denen die Hand zu schütteln, die sie betreut und gepflegt hatten. Schwester Signe, die die Balten als erste gesehen und sie in Empfang genommen hatte, fand diesen Abschied empörend. Sie hatte von den Balten immer nur den allerbesten Eindruck gehabt. Am Nachmittag dieses Tages saß sie in der Wäschekammer und weinte. Um 16.45 Uhr war die Räumung beendet, und gegen 19 Uhr befanden sich die Balten bereits in Gälltofta.
Über den Zustand in Kalmar. Nachdem die dorthin verlegten Balten den Hungerstreik aufgegeben hatten, verbesserte sich ihr Zustand deutlich, obwohl sie noch etwas schwach auf den Beinen waren. Über die allgemeine Schwäche hinaus hatten sich aber keine anderen Krankheitssymptome gezeigt. Nur ein Patient hatte akute Magenschmerzen, die aber bald abklangen. Alle waren niedergeschlagen und sahen der Zukunft unruhig entgegen. Die Ungewissheit, in der sie jetzt lebten, quälte sie.
Der lettische Gefreite E.S., 1922 geboren, war ständigen seelischen Schwankungen ausgesetzt. Psychologische Übersicht. Bei der Ankunft in Schweden war er 182 Zentimeter groß und wog 80,6 Kilo. Am 26. August wog er 84, 5 Kilo. Am 1. Dezember wog er bei einer Größe von 183 Zentimetern 77,6 Kilo. Am 10. Dezember wog er 78,2 Kilo – zwei Tage nach Ende des Hungerstreiks. Am 1. Januar wog er 79,3 Kilo und war 182 Zentimeter groß. Am 20. Januar wog er 79,1 Kilo und war 183 Zentimeter groß. Gewichtsverlust seit der Ankunft in Schweden: 1,5 Kilo.
Während dieser Zeit zwischen der letzten Novemberwoche in Ränneslätt und der Auslieferung im Januar 1946 wurden einige ergänzende, sogenannte individuelle Untersuchungen durchgeführt. Im Ergebnis wurden eine Handvoll Balten zu Zivilisten erklärt, in mehreren Fällen aus relativ undurchsichtigen Gründen: man zog es offensichtlich vor, nicht zu hart vorzugehen. Die Effektivität der Untersuchung litt unter dem Mangel an verfügbaren Unterlagen, man musste sich oft auf die Beteuerungen der Internierten verlassen, die außerdem häufig zu den Angaben im Widerspruch standen, die einzelne bei ihrer Ankunft in Schweden gemacht hatten.
Die erste dieser individuellen Untersuchungen fand am 25. November 1945 in Ränneslätt statt. Fähnrich Larsson war als Dolmetscher anwesend. An diesem Tag wurden sechsundsechzig Internierte gehört.
Die damals gemachten Angaben können in etwa zehn Fällen kontrolliert werden. Über die Glaubwürdigkeit dieser im Herbst 1945 gemachten Angaben lässt sich sagen, dass sie in sämtlichen nachprüfbaren Fällen als äußerst gering einzuschätzen ist. Die Angaben enthalten manchmal ein Körnchen Wahrheit, aber meist scheinen die Balten aus erklärlicher Verzweiflung fiktive Lebensläufe angefertigt zu haben, um der Auslieferung zu entgehen.
Hauptmann Ernests Kessels, der Chef der lettischen »SS-Abteilung«, die von Danzig nach Bornholm geflohen war, gibt an, er habe »während des letzten Weltkriegs weder in der russischen noch in der deutschen Armee gedient« und sei »als Zivilist nach Schweden gekommen«. Janis Presnikovs gibt an, er sei »aufgrund eines bescheinigten Herzfehlers vom Wehrdienst befreit worden« – diese Aussage lässt sich in seinem privaten Tagebuch nirgends erhärten, auch nicht die Behauptung, er sei in Zivilkleidung nach Schweden gekommen. Vincas Lengvelis, Partisanenjäger und Oberleutnant in der deutschen Wehrmacht, gibt an, dass sein Einsatz im Krieg sich auf »Zwangsarbeit in deutschen Lagern« beschränkt habe und dass er in Zivilkleidung nach Gotland geflohen sei. Edvard Alksnis behauptet, »nicht in der deutschen Wehrmacht« gedient zu haben. Diese Liste ließe sich beliebig verlängern.
In der schwedischen Öffentlichkeit war die Forderung nach einer individuellen Prüfung sehr oft erhoben worden. Eine solche Prüfung war in Wahrheit jedoch kaum vorzunehmen. Es fehlte an Fakten, Dokumenten, Informationen. Dieses Material gab es zwar – aber es befand sich in der Sowjetunion, und niemand war geneigt, es bei den sowjetlettischen Behörden anzufordern. Folglich konnte die individuelle Prüfung nur so aussehen: oberflächliche Verhöre, bei denen die Legionäre sich in ein gutes Licht rückten und bei denen die Schweden im Dunkeln tappten.
Veränderten sich die Legionäre?
Einige veränderten sich auf überraschende Weise, so auch Elmars Eichfuss-Atvars.
Er schrieb drei Briefe an den lettischen Sozialdemokraten Bruno Kalnins. Der erste kam im
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