Die Ausgelieferten
oder genügt es, wenn ich auf sie hinweise? Genügt es zu sagen: misstraue dir selbst, setz dich selbst herab, arbeite weiter? Seit Jahren trage ich die Frucht der Untersuchung mit mir herum, wie Sie das nennen würden, aber die Geburt wird immer wieder verschoben, ich schwelle an, werde immer schwerer, Tatsachen binden mich, Hypothesen, Ideen, Gegensätze, aber mein Kind weigert sich, geboren zu werden, solange ich nicht zugebe, dass es nicht nur die Frucht objektiver Tatsachen, sondern auch ein Stück von mir und meiner Lage ist.
Lieber Mao, schrieb er, ich schreibe diesen Brief auch aus anderen Gründen (und im Augenblick bin ich sehr müde, mir erscheint alles sinnlos). Die politischen Ereignisse der letzten Jahre haben auf mich einen höchst unangenehmen Eindruck gemacht und mich zugleich auf hässliche Weise beeinflusst. Wenn ich über Politik spreche, lande ich früher oder später in einem Zustand verzweifelten Zynismus, als hätten die Dummheit und die Heuchelei der letzten Jahre solche Höhen erreicht, dass nur noch der Rückzug aus der Politik bleibt. Ich fürchte mich vor meinem Zynismus und meinem Widerwillen, weil sie mir leichtsinnig zu sein scheinen. In der vorigen Woche habe ich einen Film gesehen, den Sie sicher auch kennen, er heißt »Elvira Madigan«. Es ist ein schöner Film, der mich sehr gerührt hat. Der Fehler dieses Films ist aber nicht, dass er andeutet, der Eskapismus sei möglich, sondern weil der Eskapismus als moralische Möglichkeit angeboten wird. Ich bringe den beiden Liebenden meine tiefste Sympathie entgegen, ihrer Lebenshaltung, ihrer Flucht. Ich bezweifle nicht, dass der Eskapismus in einer Zeit wie der unsrigen verlockend ist, weil Heuchelei und Unfreiheit ständig zunehmen. Aber eine moralische Möglichkeit wird der Eskapismus nie werden, niemals. Und dennoch – und das ist mein Problem – träume ich oft von einem Dasein und einem Leben, in dem die Menschen eingesehen haben, dass der Eskapismus ein Verbrechen ist, etwas Unmögliches und Verachtenswertes, und ihn trotzdem wählen, und zwar ohne Schuldgefühle, in einer völlig klaren, durchschauenden und eiskalten Euphorie.
Vorsitzender Mao – verstehen Sie mich? Verstehen Sie die Situation, aus der dies alles erwächst? Ich zweifle. Dieses Gefühl ist nur möglich in einer Gesellschaft wie der meinigen und unsrigen, in einer Gesellschaft, in der man schon so lange von Freiheit, Recht und Moral gesprochen und zugleich diesen Grundsätzen zuwidergehandelt hat, dass ein mit offenem Visier begangenes Verbrechen erträglicher scheint als diese glatte Verlogenheit.
Sie selbst haben über das Verhältnis zwischen Kunst und Politik sehr kluge Worte gesagt. »Was wir fordern, ist eine Einheit von Politik und Kunst, eine Einheit von Form und Inhalt, die Vereinigung des revolutionären politischen Inhalts mit der größtmöglichen Vollendung der künstlerischen Form.« Mir scheint, dass Sie eine außerpolitische Literatur ablehnen – ist das so? Aber dann müssen Sie versuchen, mich trotzdem zu verstehen. Ich lebe in einem anderen Land. Die Politik wird erst dann lebendig, wenn sie sichtbar wird, wenn sie in Schnittpunkten, Kollisionen, Konfrontationen ans Licht tritt. Sie selbst leben in einem Schnittpunkt, in einer politisch zugespitzten Situation. Ich aber lebe hier ein Leben, das – wie es scheint – sich außerhalb der Schnittpunkte abspielt, mit Loyalitätsverhältnissen, die ständig Gefahr laufen, in Abstraktionen verwandelt zu werden. Welche Loyalitäten sind sinnvoll, welche nicht? Natürlich ist die Sowjetunion unser sozialistisches Heimatland, wenn auch nur auf eine entfernte, stilisierte Weise. Aber der Staat, den ich heute betrachte, die Sowjetunion unserer Tage, scheint mir eher das versteinerte Heimatland der Bürgerlichkeit zu sein, das von einer leblosen Bürokratie beherrscht wird, die die Revolution in ein Establishment verwandelt hat. Die versteinerte Revolution – wie sollte ich Loyalität empfinden können? Sie haben recht, wenn Sie sagen, dass die Sowjetunion die Freiheitsbewegungen in den armen Ländern der Welt systematisch verrät – aber unter welchen Loyalitäten kann ich überhaupt wählen? Soll ich die Wirklichkeit im Sowjetlettland von heute wählen oder jene Wirklichkeit, die von kleinen reaktionären Exil-Gruppen beschworen wird. Wenn ich es vorziehe, auf jede Loyalität zu verzichten und nur noch exakt zu sein, ist dies nicht der Ausdruck einer freien Wahl, sondern ein Akt der Verzweiflung,
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