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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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mit ihm? Was mache ich mit ihm? Falle ich meiner Empfindsamkeit zum Opfer oder seiner? Eine Woche später starb er – wenn er falsch informiert gewesen sein sollte, hätte ich keine Möglichkeit gehabt, ihn zu korrigieren – und hätte ich das überhaupt tun wollen?
    »Tatsachen sind alle Dinge, die objektiv existieren«, sagen Sie. Aber hier sitze ich auf meinem subjektiven Nachttopf, und damals und heute vermengen sich wie Luftspiegelungen. Nimmt man zu dieser Auslieferung Stellung, so bedeutet das, dass man auch zu einer Reihe anderer politischer Fragen Stellung nimmt, so empfinde ich es: als eine Standortbestimmung. Was halte ich für wertvoll? Die Freiheit? Ich lebe in einer Zeit, in der die Freiheit der Meinungsäußerung immer mehr beschnitten wird, bald wird es so sein, dass nur noch die Schriftsteller ihre ungefährlichen Purzelbäume schlagen dürfen, und selbst das könnte man bezweifeln. Ist die Freiheit der Meinungsäußerung der Kompasskurs, nach dem ich mich ausrichte? Vorsitzender Mao, Sie lächeln wieder, ich verstehe Sie. In dieser Zeit der Meinungsmanipulation in Ost und West erscheint es mir, als würde diese Freiheit ein bisschen überschätzt, als würden die Karten der Moral nur gezeichnet, um die Intellektuellen und deren Wünsche zufriedenzustellen. Die Freiheit wird als Freiheit der Meinungsäußerung definiert, weil es wichtig ist, dass unsere Artikel und Bücher gedruckt werden. Wird ein Schriftsteller in den Kerker geworfen, wird der Becher der Entrüstung bis auf den Grund geleert: die Meinungsfreiheit ist in Gefahr. Zu leben ist dagegen nicht sehr notwendig, der Tod regt niemanden auf. Sechshundert Hungertote oder ein zensierter Schriftsteller – wir wissen, wofür wir unsere Entrüstung einsetzen müssen. Die ökonomische Moral ist den Meinungsmachern nur selten interessant erschienen, weil sie sich nämlich mit Moral und nicht mit Ökonomie beschäftigen. Die Beschreibung einer rechten Moral wird von denen besorgt, deren Beruf es ist, Dinge zu beschreiben. Dass unterdessen Menschen sterben, aus Hunger oder weil man sie gefoltert hat, ist demgegenüber nur eine ökonomische Frage.
    Vorsitzender Mao, Sie sagen, ich sei verwirrt, ich wiche vom Weg ab, ich solle mich an meine Auslieferung halten. Aber sehen Sie nicht, dass ich mich streng an sie halte? Hier stehe ich, das Kind, mit dem ich schwanger bin, wird nie geboren werden, und die Untersuchung gibt keine Antworten, und hier stehe ich. Hier. Sie haben recht, wenn Sie sagen, man habe uns betrogen und hinters Licht geführt. Aber hinter welches Licht? Ich gebe zu, dass wir das Vertrauen zu unseren Zeitungen, Politikern und meinungsbildenden Organen schon längst verloren haben, weil sie uns schon so lange angelogen haben, dass wir nichts mehr von dem glauben, was sie uns erzählen, nicht einmal dann, wenn sie zufällig mal die Wahrheit sagen. Aber was bleibt uns? Wir leben immerhin in dieser Gesellschaft. Müssen wir eine neue Geschichte schreiben? Punkt für Punkt? Das scheint mir mühselig zu sein, ist aber möglicherweise ein Ausweg.
    Ich schließe hier, schrieb er, solange meine bürgerliche Verwirrung noch hilflos und nicht lächerlich ist. Die Ereignisse der letzten Jahre scheinen meine emotionelle Ausdauer verringert zu haben: immer öfter spüre ich, wie kurz meine Wut ist, wie alles mich schnell aufregt und lebendig und aktiv werden lässt; dies ist ein glasklarer, ohnmächtiger Zorn, der einige Minuten anhält und dann zerrinnt und verschwindet – so wie auch alles andere zerrinnt und verschwindet. Ich befürchte, dass die Erschöpfungsgrenze der Empörung bei uns allen nicht sehr weit weg ist, und dahinter gibt es nur noch reinen Zynismus. Der Zynismus sitzt still und schaut zu, er betrachtet, ist unbeweglich. Also setze ich meine Untersuchung fort. Ich schreibe diesen Brief im Oktober 1967. Ich habe viele Fragen gestellt, auf die es keine Antwort gibt. Dies ist alles, was ich im Augenblick berichten kann; damit schließe ich.

13
    U m 18.15 Uhr am Abend des 15. Januar 1946 verließ die »Beloostrov« den Hafen von Trelleborg. Die Einschiffung der Internierten war bereits um 15 Uhr beendet, die letzten, die an Bord genommen wurden, waren die Deutschen aus dem Fridhem-Lager, unter ihnen auch ein paar Balten. Es war ein schöner Tag gewesen mit klarer Sonne und frischem Wind, und als das Schiff ablegte, war der Kai fast leer, weil die meisten der Wachsoldaten bereits in ihre jeweiligen Kasernen zurückgekehrt waren.
    Die

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