Die Ausgelieferten
politischem Opportunismus oder aus Dogmatismus, sondern einfach deshalb, weil seine Wertvorstellungen, seine Ausgangspunkte und sein Verstand ihm damals sagten, dass es richtig sei, die Internierten auszuliefern. Und vier Tage später begegnete der Untersucher den anderen, den indirekten Opfern der Auslieferung, und im Schnittpunkt zweier selbstverständlicher Betrachtungsweisen, die zu kollidieren schienen, im Schnittpunkt von Politik und Mensch lag die schmerzliche Einsicht, dass die Lösung und die Antwort nie völlig rechtens, nie ganz anständig würden sein können.
Was hat Peteris Vabulis getötet? Als er auf dem schneebedeckten Kai in Trelleborg lag, mitten ins Sonnenlicht, schien er fast sichtbar deutlich zu illustrieren, wie eine Situation einen Menschen dem unausweichlichen Untergang zutreiben kann: alle hatten sich hinter diesem Menschen versammelt, gerufen, dass er verloren sei, gezeigt, dass ihm keine Wahl blieb, sie hatten ihn vorwärtsgetrieben, auf den Abgrund zu, sie hatten die Regeln des Spiels geschrieben und erwartet, dass er die Hauptrolle spielen würde; danach hatten sie nur noch auf den dramatischen Höhepunkt des Spiels zu warten brauchen. Welche Faktoren hatten mitgewirkt? Inwieweit war Peteris Vabulis selbst schuldig geworden? War es möglich, zwanzig Jahre danach genau festzustellen, was die Situation hervorgerufen, wer in der Menge am lautesten gerufen hatte?
Damals war alles möglich, aber jetzt nicht mehr. Das einzig Beständige blieb am Ende nur eine Tatsache: dass der Mann auf dem Kai tot war. Dass er auf den Abgrund zugetrieben wurde und in die Tiefe sprang.
Was übrigblieb: eine Reisetasche mit verschiedenen persönlichen Habseligkeiten, darunter 3,31 Schwedenkronen in Münzen, ein Pappkarton, der hauptsächlich Lebensmittel enthielt, und ein lettischer Pass, Nr. TT 011518. Sein Grab liegt auf dem Adolf-Fredriks-Friedhof in Stockholm.
12
S chweden, Oktober 1967. Er fuhr von Kristianstad in südlicher Richtung nach Rinkaby, bog nach links auf den kleinen Blinddarm nach Gälltofta ab, und setzte seinen Weg noch etwa eine Stunde fort. Alles war so, wie es früher gewesen war, nur noch etwas schöner. Die Bäume waren rot, die Felder unendlich, er fuhr an Yngsjö und dem rechter Hand liegenden Moor vorbei, und am Nachmittag war er in Trelleborg. Er fuhr sofort zum Hafen hinunter, parkte den Wagen, stieg aus und sah über die Hafeneinfahrt hinaus. Hier hatte das Schiff gelegen. Er stand exakt auf dem Platz, an dem die Gangway aufs Schiff geführt hatte. Hatte es überhaupt einen Sinn, mit diesen pathetischen Versuchen in sich selbst Rekonstruktionen von Gefühlen und Ereignissen aufbauen zu wollen? Er hatte in Kristianstad gut gegessen, es ging ihm gut, das Wasser war ruhig, und die Dämmerung brach langsam herein: in einer der ersten Darstellungen der eigentlichen Auslieferungsprozedur waren die Balten als taumelnde Skelette geschildert worden, die sich nur mühsam fortbewegten. Darüber hatte er sich lange geärgert, weil er gemeint hatte, es müsse möglich sein, die Prozedur exakt zu beschreiben: nicht mit blumigen Metaphern, sondern mit Gewichtstabellen, Statistiken über die Veränderungen des Körpergewichts, mit Fakten. Es war ihm nicht gelungen, alle Fakten zu sammeln, nicht einmal genügend, aber selbst wenn es ihm gelungen wäre: hätte nicht noch etwas gefehlt? Das Wasser im Hafenbecken war ruhig und ölig, die Lichter begannen zu brennen; als er dastand, versuchte er, den Flügelschlag der Geschichte oder etwas Ähnliches zu fühlen, aber natürlich spürte er nichts. Weil er aber Lager um Lager besucht, Platz um Platz erforscht hatte, ein Krankenhaus nach dem anderen, und nirgends etwas gespürt hatte außer dem Abstand , so erstaunte ihn das nicht. Er machte eine Skizze von der Hafeneinfahrt, zeichnete den Liegeplatz des Schiffs ein, betrachtete die Skizze und warf sie sofort weg. Diese sinnlose Exaktheit. Er ging auf die Mole hinaus, stand am äußersten Ende und blickte auf das Wasser hinaus, in Richtung Bornholm. Er blieb lange dort draußen und sah die Dämmerung hereinbrechen, es wurde dunkel, er ging zurück, starrte wieder aufs Hafenbecken, aber es sagte ihm überhaupt nichts. An diesem Abend fuhr er noch nach Eksjö, der Marktplatz war leer, und als er auf dem Weg zum Hotel das Reiterstandbild passierte, begann es sacht zu regnen: kleine Lichtpunkte in der Dunkelheit. Am nächsten Morgen setzte er seine Heimfahrt fort. Dies war die letzte Reise zu den Lagern,
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