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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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musste es sein, denn er hatte jedesmal flüchtiger hingeschaut, als wären sie nur Zwischenstationen auf dem Weg zu einer wichtigeren Begegnung. Er hatte es pflichtschuldigst getan, also eigentlich voller Ungeduld. Er kam spätabends nach Hause, ging direkt zum Kühlschrank, er hatte aber nichts im Haus, so dass ihm nichts weiter zu tun blieb, als schlafen zu gehen. Wie weit war er bereits gekommen? Wieviel blieb noch übrig?
    In dieser Woche schrieb er einen Brief.
    – Lieber Vorsitzender Mao, schrieb er, Sie schreiben in Ihrem Buch, dass »eine Untersuchung mit den langen Monaten der Schwangerschaft verglichen werden kann, und dass die Lösung eines Problems dem Tag der Geburt vergleichbar ist. Ein Problem zu untersuchen heißt in Wahrheit, es zu lösen.« Sie schreiben auch: »Wenn man eine solche Einstellung hat, sucht man aus den Tatsachen die Wahrheit heraus. Tatsachen sind alle Dinge, die objektiv existieren, unter Wahrheit versteht man ihr inneres Verhältnis zueinander, das heißt die Gesetze, denen sie folgen, und suchen heißt studieren. Wenn wir das tun wollen, dürfen wir uns nicht auf subjektive Vorstellungen stützen, nicht auf zufällige Begeisterung, nicht auf leblose Bücher, sondern auf objektiv existierende Tatsachen.« Sie schreiben, dass »man erst nach, aber nie vor einer Untersuchung zu Schlussfolgerungen gelangt«. Ich habe Ihre Worte gelesen, und sie machen mir Kummer.
    Wie Sie vielleicht wissen, schrieb er, arbeite ich an einem Roman über die Auslieferung der Balten 1945/ 46. Mein Problem besteht nicht darin, dass es mir schwerfällt, Tatsachen zu finden oder das Verhältnis der von mir entdeckten Tatsachen zueinander zu beschreiben. Dagegen fällt es mir schwer, mich nicht auf subjektive Vorstellungen zu stützen – es fällt mir schwer, unter den vorliegenden Tatsachen eine Wahl zu treffen. Prioritäten zu schaffen, unter widersprüchlichen Fakten die Wahrheit herauszusuchen. Hier nun, Vorsitzender Mao, meine erste Frage. Ich glaube herausgefunden zu haben, dass diese eigentümliche politische Affäre jahrelang in allzu subjektiver Weise benutzt, ausgenutzt und – ich zögere nicht, das Wort zu gebrauchen – ausgebeutet worden ist, ohne dass es jemandem eingefallen wäre, den Dingen auf den Grund zu gehen, die Wahrheit herauszufinden und zugleich seine eigenen Ausgangspunkte, politische wie ideologische, darzulegen. Sie würden sagen, dass man bislang nur von subjektiven Vorstellungen ausgegangen sei, ohne auf sie hinzuweisen und sie zu erläutern. Wie steht es aber mit mir?
    Vorsitzender Mao, schrieb er, mein Problem besteht darin, dass ich eine bestimmte politische Situation inmitten einer völlig anders gearteten politischen Situation beschreibe , und diese beiden Situationen überdecken einander und färben aufeinander ab. Heute wird die Reaktion immer stärker, es werden Bombenteppiche gelegt, Freiheitsbewegungen ausgerottet, Völker ausgerottet, der Sozialismus, von dem wir beide träumen, wird immer wahnwitzigeren Angriffen ausgesetzt, während andererseits versklavte Völker immer tiefer in den Schlamm und in den Schmutz gedrückt werden. Es scheint, als wäre jeder Versuch, die sozialistische Front zu zersplittern oder aufzulockern oder in Frage zu stellen, ein Verrat, und es scheint auch tausend Probleme zu geben, die uns mehr unter den Nägeln brennen als diese merkwürdige Auslieferung. So sieht unsere Wirklichkeit heute aus. Und damals ? Wie war die Wirklichkeit 1945? Nach dem Krieg, unter Stalin, nach dem heißen und vor dem kalten Krieg? Verschmelzen die Situationen nicht wie Luftspiegelungen zu einem fehlerhaften Bild, gegen meinen Willen?
    Ich schreibe, weil ich einen Rat brauche. Vorsitzender Mao, was werden Sie erwidern? Ich habe Respekt vor Ihnen, Sie machen den Eindruck eines traurigen, aber klugen Menschen, eines melancholischen, aber sachlichen Mannes mit einem Anflug von Humor, den man bei Politikern selten findet. Wenn es stimmt, dass Politik für den heutigen Menschen in der Suche nach Vatergestalten besteht, so würde ich – vor die Wahl gestellt – eher Sie als Tage Erlander wählen. Sie sagen: das ist eine zu leichte Wahl. Ich sage: es ist immerhin eine Wahl.
    Ist es notwendig, diese eigentümliche Affäre zu beschreiben? Oft scheint mir, als wäre meine Arbeit unwichtig. Und dennoch mache ich weiter.
    Meinen Ausgangspunkten kann ich aber nie entfliehen: der politischen Situation von heute, meinen heutigen Wertvorstellungen. Muss ich das bedauern –

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