Die Ausgelieferten
fahren sollte. Womöglich würden die Schweden auch sie und die Kinder an die Russen ausliefern? War sie hier im Lager nicht besser aufgehoben? Vielleicht sagte ihr auch ihr Stolz, dass sie nicht fahren dürfe. »Ich dachte, dass ich niemals in dieses Mörder-Land fahren würde, niemals, niemals – ich konnte es mir einfach nicht vorstellen.«
Sie blieben also in Lübeck.
In Lübeck und im übrigen Deutschland gab es aber viele Flüchtlingslager, und viele Flüchtlinge suchten um Visa für westeuropäische Länder nach, und einige bekamen sie auch. Zuerst kamen die Engländer und schöpften unter den Arbeitsfähigen den Rahm ab – die Männer im Alter von zwanzig bis dreißig. Dann kamen die Kanadier und holten sich ebenfalls einen Teil der produktiven Flüchtlinge. Auch Australien ließ Familien mit mindestens zwei arbeitsfähigen Mitgliedern ins Land. Die Gesündesten, die Besten, die Vitalsten verschwanden zuerst. Die Alten blieben selbstverständlich zurück, die wollte kein Mensch haben. Die Kranken blieben zurück, Witwen mit kleinen Kindern blieben zurück, alle, die sich nicht nützlich machen konnten.
So auch Emilija-Elena Vabulis und ihre zwei Kinder.
Es kam das Jahr 1947, es wurde 1948, die Jahre vergingen, die Lager wurden kleiner, es ging ihnen allmählich immer besser, aber dennoch war dies keine Umgebung für die Kinder – und wohin sollte sie jetzt gehen? Sie litten keine Not, es kam das Jahr 1949, war dies das Leben, das sie sich vorgestellt hatten?
Im Januar 1950 hatten sie fast genau fünf Jahre im Lager gelebt, als sie von neuem eine Einreisegenehmigung nach Schweden beantragte. Niemand wusste mehr, wer sie war, diesmal ging es ein bisschen langsamer, aber es ging. Sie bekam die Einreiseerlaubnis, und sie fuhr mit den Kindern nach Schweden. Sie gingen in Hälsingborg an Land, fuhren dann nach Värmland weiter, das sie sehr schön fanden. Im selben Jahr heiratete sie wieder, einen Mann aus dem Flüchtlingslager in Lübeck; jetzt war alles vorbei, aber das, was damals geschehen ist, wird sie dennoch nie vergessen. Vielleicht wäre das auch zuviel verlangt. »Wir haben es gut. Ich fühle keinen Hass mehr.« Ihre Erzählungen sind aber voller Vorbehalte, und wenn sie auf die Vergangenheit zu sprechen kommt, geht ihr Gesicht wieder in Stücke, sie weint, halb verschämt, aber dennoch unrettbar gefangen in einer Verzweiflung, die nie ganz in Erinnerung und Geschichte verwandelt worden ist.
Sie kamen nach Västerås, wo sie heute leben. In den letzten zwei Jahren hat ihnen auf der Straße niemand mehr »Scheißausländer!« nachgerufen. Viele glauben, sie seien Griechen – Vabulis klingt griechisch. Sie wohnen gut. Über die Vergangenheit haben sie heute nicht mehr viel zu erzählen: doch, vielleicht dies: sie hat vom schwedischen Staat nie eine Witwen-Pension erhalten. Sie sagt es mit einem Anflug von Stolz.
Der Sohn ist in Schweden zur Schule gegangen, er ist heute Ingenieur. Bevor er nach Schweden kam, hatte er einen großen und blinden Hass auf die Schweden gefühlt, die seinen Vater getötet hatten. Dieser Hass verschwand aber, als er die Schweden sah: es waren zu viele, sie waren zu verschieden, der Begriff »die Schweden« wurde abstrakt und zu verschwommen. Daraufhin übertrug er seinen Hass auf die Regierung, die seinen Vater ausgeliefert hatte, aber auch dieser Hass wich allmählich. Heute möchte er am liebsten gar nicht mehr an diese Geschichte denken. Ich bin Schwede, sagt er. Er ist mit einer Schwedin verheiratet und hat zwei Kinder. Sie wohnen in Skultuna, der älteste Sohn ist jetzt fünf. Er weiß nichts von dem, was damals geschehen ist, er ist nur das vorläufig letzte Glied in einer sehr langen und eigentümlichen Geschichte.
Er heißt Peter Vabulis.
Was hat Peteris Vabulis getötet?
In diesem Sommer 1967 sprach der Untersucher innerhalb einer Woche mit Ernst Wigforss und dem Sohn des Mannes, der auf dem Kai in Trelleborg Selbstmord begangen hatte. An das Gespräch mit Wigforss sollte er sich noch lange erinnern: an den langen Nachmittag in Vejbystrand, den Spaziergang durch den Wald am Strand, an diesen freundlichen, völlig glasklaren politischen Pensionär, den er vielleicht mehr bewunderte als irgendeinen anderen schwedischen Politiker: es gab gute, selbstverständliche und schwerwiegende Gründe für die Auslieferung, das ist unzweifelhaft. Ernst Wigforss war eine der treibenden Kräfte hinter der Auslieferung – nicht aus Bosheit, nicht aus Nachgiebigkeit, aus
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