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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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weil die Exaktheit das einzige ist, was übrigbleibt.
    Vorsitzender Mao, schrieb er, Sie müssen meine Lage verstehen. Natürlich hält das Großkapital uns in seinen Klauen, und der Griff wird sogar immer härter, aber wir haben uns an den Schmerz gewöhnt und daran gewöhnt, den Schmerz zu verschweigen. Und in dem ruhigen und entdramatisierten Limbo, das unser Land ist, träume ich trotzdem heimliche und verbotene Träume von einer entpolitisierten Kunst.
    Ich glaube nicht, dass sie sich verwirklichen lässt, schrieb er, aber ich träume, ich will glauben, ich glaube, ich glaube.
    Vorsitzender Mao, schrieb er, ich denke oft mit Freundschaft, Skepsis und Unruhe an Sie. In Ihren Schriften suche ich die Hilfe, die mich befähigen könnte, meine Aufgabe zu lösen. »Wir müssen uns alle den Geist der vollkommenen Selbstlosigkeit beibringen«, schreiben Sie. Sie sind sicher der Meinung, dass die baltischen Legionäre freiwillig in ihr Land hätten zurückkehren sollen, um ihre Strafe anzunehmen oder das aufzubauen, was niedergebrannt worden ist. Aber wenn sie damit den Tod riskiert hätten? »Obwohl der Tod alle Menschen trifft, kann er schwerer sein als der Tai-Berg oder leichter als eine Feder.« Stimmt das? »Fürs Volk zu sterben wiegt schwerer als der Tai-Berg, aber für den Faschismus zu arbeiten und für die Ausbeuter und Unterdrücker zu sterben wiegt leichter als eine Feder.«
    Gibt es verschiedene Tode? Gibt es politische Morde, die man leichter akzeptieren kann als andere? Sie sagen, dass ich mich jetzt zu weit vom Ausgangspunkt entfernt habe, aber Sie müssen verstehen, dass diese Untersuchung bei Fragestellungen wie dieser überhaupt erst beginnt – und endet. Ist es möglich, ein Töten zu akzeptieren, das aus vernünftigen ideologischen Gründen geschieht? Für mich als Schweden, mit meinem patentierten Humanismus und meinen vorgekochten Ansichten, ist dies unmöglich und anstößig, während Sie über meine Naivität nur lächeln. Kann man Morde abstufen, so dass der sinnlose Mord an einem Juden, ein Mord, der auf Rassenwahn beruht, als schlimmer erscheint als der ideologische Mord an einem Kulaken?
    Ich habe schließlich gelernt zu sagen: ja, es gibt einen Gradunterschied. Vielleicht ist das selbstverständlich, aber ich habe das vage Gefühl, an einem Kreuzweg vorbeigekommen zu sein, mich von einem Teil einer Tradition abgeschnitten zu haben. Einem Teil meines Lebens.
    Dennoch muss ich bekennen: die Ratschläge, die Sie in ihren Schriften erteilen, passen schlecht zu der Situation, die zu untersuchen ich mir vorgenommen habe. Ich möchte ja auch diese Legionäre verstehen, ihre Lage verstehen, den Mechanismus, der in dieser Situation erkennbar wird – aber ihre Verzweiflung scheint mir übertragbar, nicht beschreibbar zu sein. Trotzdem weigern sie sich, sich abspeisen zu lassen. In diesem Jahr, im Sommer und im Herbst 1967, hat ein junger Mensch (den ich kaum kenne) an mich geschrieben. Zu manchen Zeiten schreibt er mir fast täglich – lange, furchtbare Briefe, weil er glaubt, er sei auf dem Weg, geisteskrank zu werden. Er schreibt, weil er einen Menschen braucht, an den er schreiben kann. Die Briefe sind furchtbar. Er spricht von der Angst als von einem Geier, der sich an ihm festkrallt. Er spricht von einer gespaltenen Welt. Ich antworte ihm nicht, weil ich nicht die Kraft dazu habe. Er bricht in entsetzliche Anklagen gegen sich selbst und andere aus. Manchmal kommen kleine Zettel als Antwort auf mein Schweigen. »Man kann nicht in getrennten. Welten leben«, schreibt er. »Man muss Verantwortung übernehmen.« Ich sage mir selbst, dass ich feige oder grausam bin, weil ich ihm nicht antworte, aber seine Probleme sind zuviel für mich. Ich schreibe ihm und sage, er müsse aufhören oder einen Arzt aufsuchen. Am nächsten Tag ist wieder ein Brief da.
    Vorsitzender Mao, er weigert sich, sich abspeisen zu lassen. Ist sein Problem politischer Natur? Ich denke: ich kann meine Gleichgültigkeit immer noch in einer Novelle verwerten, entdecke aber sofort, dass das Problem schon längst verarbeitet worden ist und dass meine Gleichgültigkeit mich nicht quält, weil ich sie rationell erklären kann. Es wäre also sinnlos, damit zu kokettieren: in unserem Land, Vorsitzender Mao, stehen wir vor Problemen wie diesem, weil es schwierig ist, schlagkräftige Gewissensnöte zu finden. Was soll ich nun mit ihm machen? Ist er das Opfer einer Entfremdung? Er weigert sich, sich abspeisen zu lassen – was machen wir

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