Die Ausgelieferten
Vorsicht zur Kenntnis genommen werden.
Die gleiche Vorsicht ist gegenüber den im Osten abgegebenen Erklärungen geboten. Es ist wichtig, die Umstände, unter denen ein Interview zustande kommt und stattfindet, genau zu beschreiben. Beim ersten Besuch traf er drei ausgelieferte Legionäre. Zwei der Gespräche fanden in Anwesenheit eines Dolmetschers statt, und die dabei gemachten Äußerungen können folglich durch diese Tatsache beeinflusst worden sein. Sie sind infolgedessen höchst unbefriedigend. Das dritte Gespräch fand jedoch unter vier Augen und ohne Dolmetscher statt, in Jurmala, dem Badestrand Rigas, und ist aus diesem Grund in formaler Hinsicht akzeptabel.
Im September sprach er mit insgesamt elf Ausgelieferten. Bei keinem dieser Gespräche war ein Dolmetscher anwesend, wenn man davon absieht, dass er bei dreien der Interviews einen Ausgelieferten, der sich im Lauf der Jahre ausgezeichnete schwedische Sprachkenntnisse angeeignet hatte, als Dolmetscher benutzte. Es deutete jedoch nichts darauf hin, dass dieser Mann als Kontrolleur eingesetzt oder von sich aus bereit und willig war, den Behörden von den Aussagen seiner ehemaligen Kameraden Mitteilung zu machen.
Die Gespräche fanden in zwei Fällen im Hotelzimmer des Untersuchers statt, in zwei Fällen in Privatwohnungen, im übrigen in Parks, bei Spaziergängen, in zufällig besuchten Lokalen, in Hauseingängen und bei Einkäufen. Alle diese Gespräche zu registrieren oder zu überwachen war unmöglich.
Vor der ersten Reise nahm er mit der russischen Botschaft Verbindung auf und teilte mit, was er mit dieser Reise bezweckte. Er war nämlich der Meinung, dass jeder Versuch, die Ausgelieferten heimlich aufsuchen zu wollen, ihnen schaden könnte , und dieses Risiko wollte er nicht eingehen. Vor der zweiten Reise nach Lettland war es ihm jedoch gelungen, von schwedisch-baltischer Seite einige Adressen zu erhalten. Drei der Ausgelieferten wurden also ohne Wissen der sowjetischen Behörden interviewt, und zwar sehr diskret, so dass niemand davon erfahren konnte. Er wurde nicht beschattet. Diese drei Gespräche sowie die dabei gemachten Angaben unterschieden sich im Prinzip nicht von den anderen.
Hatten sie Angst? Einige fürchteten sich, waren misstrauisch, schweigsam. Einige waren völlig furchtlos, einige reserviert. Die Legionäre, mit denen er sprach, gehörten allen Kategorien an: Bestrafte und Nicht-Bestrafte, Sibirien-Veteranen und etablierte höhere Beamte. Fürchteten sie sich vor ihm? Hielten sie ihn für ein Sicherheitsrisiko? Was dachten sie über den Untersucher? Inwieweit prägte ihre Einstellung die Antworten, die sie ihm gaben?
War er im Begriff, in eine Falle zu tappen?
Zu Beginn der Untersuchung war er – wie die meisten Schweden – völlig ahnungslos und unwissend, was das baltische Problem betraf. In Schweden leben heute etwa fünfzigtausend Balten und Nachkommen baltischer Eltern; er wusste damals kaum, dass es sie überhaupt gab. Es gab sie aber. Sie waren zum Teil assimiliert, zum Teil bewahrten sie ihre Eigenart und ihre Kultur. Sie besaßen eigene Schulen, Zeitungen, Verlage und eine völlig eigenständige politische Struktur mit inneren politischen Gegensätzen, die sich von denen anderer Gesellschaftsstrukturen kaum unterschieden. Es war nicht schwer zu erkennen, dass sie aus dem Blickwinkel der schwedischen Gesellschaft ein sehr erwünschter Menschentyp sein mussten, denn sie waren vital, anpassungsfähig, und außerdem war der Prozess der Assimilierung bei den meisten fast reibungslos verlaufen.
Dem Untersucher schien es, als würde er innerhalb der gewohnten Umwelt eine völlig neue Gesellschaft entdecken.
Und die politische Funktion?
Eine große Minderheit, mehr als fünfzigtausend.
Waren sie trotzdem heimatlos? Er hatte sie zufällig entdeckt, aber sie hatten die Schweden ständig beobachten und beurteilen können. Was dachten sie? Von welchen politischen Wertvorstellungen wurde ihr Denken beherrscht?
Die kleinste und extremste Gruppe unter den Balten war am leichtesten auszumachen. Es war der kleine, aktive, sehr lautstarke und entschlusskräftige rechte Flügel unter den Balten, der nur wenige Prozent ausmachte, dem es aber lange Zeit gelungen war, das Gesamtbild nach außen hin zu dominieren. Der Exilpolitiker im wüsten Land der Exilpolitik. Trotz des ideologischen Abstands zu diesen Menschen konnte er sich eines gewissen Mitgefühls nicht erwehren: die müden und trostlosen Stammtischgespräche, wie aus einer
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