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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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erschöpfend wie möglich beantwortet werden sollten: sie betrafen das Elternhaus, die Ausbildung, die Erlebnisse während des Krieges usw.
    Nach Ausfüllung des Formulars wurden sie einzeln hereingerufen, um weitere Fragen zu beantworten. Der älteste Offizier der Gruppe, Ernsts Kalsons, wurde gefragt:
    – Wir wissen, dass junge Männer zwangsrekrutiert wurden, dass andere Nazi-Sympathisanten, Opfer einer bürgerlichen Erziehung oder einfach nur Abenteurer und Karrieristen waren. Aber welche böse Macht hat Sie alten Mann gezwungen, in die Wehrmacht zu gehen?
    Diese Untersuchung war die einzige, die in Liepaja durchgeführt wurde.
    Einige Internierte wurden jedoch auch später noch einer gründlichen Untersuchung unterzogen, unter ihnen auch Eichfuss, der einige Wochen damit beschäftigt war, einen sorgfältigen und ausführlichen Lebenslauf anzufertigen.
    Welche Haltung nahmen die Wachen gegenüber den Internierten ein?
    Nichts deutet darauf hin, dass es während dieses ersten halben Jahres zu Brutalitäten gekommen ist. Die Verhältnisse im Lager waren nicht gut, aber erträglich: in mehreren Berichten wird über die vielen Läuse geklagt. Die im Westen aufgeschriebenen Erlebnisberichte verweilen jedoch oft bei vermeintlichen oder tatsächlichen Schikanen der Wachposten. »Die Balten durften nicht arbeiten – wir wurden nur im Lager beschäftigt, mit Kartoffelschälen oder Wäschewaschen. Einmal wurden wir jedoch aus dem Lager geholt; etwa einen Kilometer weiter weg mussten wir einen Holzbunker abreißen, dessen Bretter für die Heizung unserer Baracke verwendet werden sollten. Auf dem Marsch dorthin befahlen uns die jungen russischen Wachposten, uns nicht umzusehen, nicht miteinander zu sprechen und die Hände auf dem Rücken zu halten. Diese Russen fluchten oft über uns, sagten ›mordy zdorovyje‹ und ›bald werden wir mit euch abrechnen‹. Nachdem wir den Bunker abgerissen hatten, trugen wir das Brennholz auf dem Rücken zum Lager.«
    Eichfuss? Ein deutscher Internierter, der ihn sehr gut kannte, zerstritt sich in dieser Zeit mit ihm und hielt sich in Zukunft von ihm fern. »Es ist bezeichnend«, schrieb er in einem Bericht, »dass Dr. Eichfuss von dieser Zeit an ausschließlich mit einigen Antifaschisten und Demokraten umging, die Handlanger der Bolschewisten und in Wahrheit nichts anderes als Verräter und reine Berufsverbrecher waren.«
    Die Kluft zwischen Eichfuss und den übrigen Offizieren war jetzt endgültig, sie sprachen nie mehr miteinander. Im Mai wurden sie jedoch zusammengelegt. Eine kleinere Gruppe von Balten kam in ein Lager am Stadtrand von Riga – zu dieser Gruppe gehörten auch Eichfuss, einige der höheren Offiziere wie Kessels und Gailitis sowie einige Gefreite, unter ihnen auch alle Esten.
    Das neue Lager wurde von den Deutschen »Rote Düna« genannt; es war bereits unter den Deutschen ein Internierungslager gewesen. Dort verbrachten sie den Sommer. Im August wurden alle Esten bis auf einen – der inzwischen geflohen war – und ein Teil der lettischen Offiziere freigelassen. Sie traten auf dem Hof vor den Baracken zu einem letzten Appell an, bekamen einzeln ihre Papiere ausgehändigt und konnten gehen. Für die Esten war dies das Ende der langen Internierungszeit – sie waren endgültig frei und wurden nie mehr eingesperrt.
    Bei einigen der übrigen ist die Geschichte etwas komplizierter.
    Die übrigen?
    Es waren nur wenige Balten nach Riga gebracht worden – die meisten blieben in Liepaja. Aber auch sie sollten noch verlegt werden. Anfang Juni (in einigen Berichten heißt es »Ende Mai«) wurde die Mehrheit der aus Schweden ausgewiesenen Legionäre (etwa hundertzehn Mann, von denen die meisten Letten waren) in ein neues Lager gebracht. Es lag in Jelgava, gut sechzig Kilometer südöstlich von Riga.
    In Jelgava war es mit der Ruhezeit zu Ende, dort mussten sie arbeiten. Sie wurden in einer Ziegelei beschäftigt. Jeder bekam Befehl, pro Tag eine bestimmte Anzahl Ziegel herzustellen, andernfalls würden die Essensrationen drastisch herabgesetzt werden. Das war nicht wenig verlangt, und es wurde ein harter und quälender Sommer. Diejenigen Legionäre, die sich noch nicht vom Hungerstreik erholt hatten, mussten hart schuften. Das Essen war immer noch schlecht, aber es hätte nicht viel Sinn gehabt, sich zu beklagen, also hielten alle den Mund. Jetzt durften sie auch schon Besuch empfangen; zum erstenmal seit Jahren konnten sie ihre Verwandten wiedersehen. Diese durften von Riga zum

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