Die Ausgelieferten
Flucht hörten sie auf zu wachsen, zu leben, sich zu verändern«: Sie müssen einsehen, dass dies nicht nur die Beschreibung einer der vielen menschlichen Tragödien unserer Zeit ist, sondern auch eine Anklage in viele Richtungen: gegen die Sowjetunion, gegen die schwedische Gesellschaft – und in gewisser Weise auch gegen diejenigen, die geflohen sind. Und ich selbst sitze hier inmitten meines Haufens von Mosaiksteinchen, ich versuche, sie zu einem Bild zusammenzufügen. Irgendwie hängt dies mit dem Bild von der Auslieferung der Balten zusammen. Aber wie? Sie beschreiben klar, zwar mit Bitterkeit, aber doch mit einer Distanz, die ich bewundern muss, die Auswirkungen der Exil-Situation auf einen Menschen. »Wollen Sie auch das zweite traurige Geheimnis erfahren? Es ist meine tiefe Überzeugung, dass wir Exil-Menschen bis auf den Grund unseres Wesens asozial sind. Unbewusst asozial oder sozial unbewusst. Vielleicht nicht in der Form, dass wir zu kriminellen Handlungen neigen, aber uns ist alles egal. Wir kümmern uns um nichts, halten Abstand, weichen aus. Nennen Sie das, wie Sie wollen. Wir gehorchen den Gesetzen, daran liegt es also nicht. Es ist eine andere Art Asozialität, die ich im Auge habe, die eigentlich gefährlicher ist als jede noch so offene Neigung zur Kriminalität. Obwohl sie für alle Teile bequemer ist. Das Verhältnis des Exil-Menschen zu seinem Land ist natürlich angestrengt und bemüht. Aber was soll man dagegen tun?« Ja, was soll man gegen die Tatsache unternehmen, dass es zwei lettische Völker gibt? Darf ich jemanden zitieren, den ich kürzlich in Lettland gesprochen habe? Es war ein Lette, ein Nationalist, aber er glaubte erlebt zu haben, dass die Feindseligkeit der Exil-Letten gegenüber dem sowjetischen Regime allmählich und auf paradoxe Weise auch die Daheimgebliebenen betroffen habe, die Letten in der Heimat. Er drückte es so aus: »Wir können verstehen, dass sie den Kommunismus und die Sowjetunion hassen. Aber warum weigern sich die meisten, uns zu besuchen? Wozu diese gehässige Propaganda gegen alles, was wir tun, gegen die Häuser, die wir bauen, gegen unseren Lebensstandard und alles andere, was mit uns zu tun hat? Ich habe manchmal das Gefühl, als würden sie uns verachten: uns, die armen, daheimgebliebenen Vettern, die nicht genug Grips gehabt haben, um selbst zu fliehen. Sehe ich das richtig, du kennst sie doch? Ist es wahr, dass sie uns Hiergebliebene verachten?« Und ich sagte ihm: nein. Es ist nicht wahr. Und das ist es auch nicht, jedenfalls kann man das von den meisten sagen. Sie sagen: das kommt darauf an, wen Sie kennenlernen. Vielleicht habe ich ihn doch ein wenig angelogen?
Aber wie sollte ich, ein Schwede, dieses vieldeutige Gefühl aus Sehnsucht, Schuld, Zorn und Trauer beschreiben können, mit dem der Exil-Lette sein altes Heimatland betrachtet? Sie sprechen von Schuld – die Schuld liege nicht bei uns selbst. Sind Sie sicher, ganz sicher? Steckt in Ihrer Sehnsucht nicht auch Schuld? Und wird dieses neurotische Schuldgefühl nicht manchmal von – nein, nicht von Verachtung, aber von Distanz überdeckt?
Die Mosaiksteinchen hatten undeutliche Formen, sie häuften sich vor ihm: Gefühle in Form von Mosaiksteinchen, Erwiderungen, Attitüden. Welche Attitüden und Vorurteile hatte er selbst? Auf der Schiffsreise im Juli trifft er eine ältere schwedische Lettin, die auf dem Weg nach Riga ist. Was erwartet sie? Die Schwierigkeit besteht für sie darin, die Kleidungsstücke durch den Zoll zu bringen, die sie ihren Verwandten schenken will. Sie beschreibt ihm ihren Plan: sie trägt drei Lagen Unterwäsche sowie drei Kleider übereinander und geht durch den Zoll. Sie wird nicht angehalten und kehrt am nächsten Abend aufs Schiff zurück, auf dem sie wohnt. Jetzt trägt sie nur noch ein Kleid. Ihr Eindruck von Lettland? Sie hat in einem Paket sogar einen Haufen Nylonsocken und Strümpfe mitgebracht, die sie verschenkt. Sie besucht ihre Onkel und Cousinen. Wie nahmen sie ihre Gaben entgegen? Was sie am meisten erstaunt habe, sei der lasche Zoll gewesen. Die Formalitäten hätten fürchterlich lange Zeit in Anspruch genommen, aber man habe sie sehr oberflächlich untersucht. Sie hätte die Kleidungsstücke ebensogut in einen Koffer stecken können. Die Verwandten hätten sich natürlich bedankt, aber sie sei erstaunt, welch hohen Kleidungsstandard die Letten inzwischen erreicht hätten. Natürlich sei die Qualität nicht so gut wie in Schweden, aber immerhin. Es sei
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