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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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Lager hinausfahren, und während der Sommer verrann, standen die Frauen in ihren ärmlichen schwarzen Kleidern und mit den kleinen Paketen in der Hand auf der anderen Seite des Stacheldrahts. Sie konnten immerhin miteinander sprechen, und bald wussten auch die Legionäre, dass Lettland kein Land war, in dem Milch und Honig flossen. Dies war der zweite Friedenssommer, der Winter war für die Zivilbevölkerung schwer und hart gewesen; das Essen der Gefangenen war nicht gut, aber das der Zivilisten war auch nicht viel besser. Nachdem die Internierten das erfahren hatten, erschien ihnen ihr Los nicht mehr so schwer.
    Die Unterkünfte? Eng. Ungeziefer? Ja, Ungeziefer. Wie fühlten sie sich?
    Wie fühlten sie sich?
    »Mit uns war eine große Verwandlung vorgegangen, seitdem wir in Trelleborg an Bord gegangen waren – zuvor diese Verzweiflung, wir wollten nur sterben, alles war so hoffnungslos, wir versanken immer tiefer im Sumpf. Aber nach der Auslieferung – da war es mit einemmal, als klammerte sich jeder einzelne von uns mit allen Kräften ans Leben. Jetzt galt es zu überleben, um jeden Preis, wie beschissen das Leben auch sein mochte. Jetzt gab es niemanden mehr, der an Selbstmord dachte, jetzt wollten wir nur noch am Leben bleiben. Ich erinnere mich noch an den Sommer in der Ziegelei von Jelgava – wie wir uns abquälten und schufteten, weil wir leben wollten, um jeden Preis, um jeden Preis. Die Verhältnisse waren natürlich viel schlechter als in Schweden, aber es war, als … als hätten wir plötzlich einen viel stärkeren Lebenswillen. Es ging nur noch ums Überleben. Verstehst du?«
    In der letzten Augustwoche kam das überraschende Ende. Man ließ die Legionäre auf dem Hof antreten, worauf ein russischer Offizier eine kurze Rede hielt. Er erklärte, die Untersuchungen seien jetzt beendet, sie würden jetzt freigelassen und könnten gehen, wohin sie wollten. Sie sollten sich sofort im Büro melden, in alphabetischer Reihenfolge.
    Nur drei Männer wurden noch im Lager zurückgehalten: Recis, Peteris Ziemelis und ein Soldat namens Balodis.
    Sie durften also gehen, einer nach dem anderen, das Lager verlassen – sie waren in Freiheit. Fast sechzehn Monate waren sie interniert gewesen, und die Namen der Lager bildeten feste Punkte in der langen Kette von Ereignissen, die sie vor sich hergetrieben hatten, als wären sie hilfloses Treibgut in einem Strom. Havdhem. Bökeberg. Rinkaby. Ränneslätt. Gälltofta. Liepaja. Riga. Jelgava. Jetzt waren sie endlich frei, sie waren in ein Land zurückgekehrt, das vom Krieg verwüstet, ausgebrannt, kaputtgesprengt war, in ein Land, das nach Auffassung der meisten jetzt von russischen Truppen besetzt war und in Unfreiheit lebte, oder – einer anderen Meinung zufolge – in ein Land, das endlich zur russischen Mutterbrust zurückgefunden hatte.
    Vor ihnen lagen nicht gerade rosige Zeiten, aber sie waren immerhin frei.
    Im August 1946 war der ehemalige lettische Gefreite S.E., der der 15. lettischen SS-Legion angehört hatte, 24 Jahre alt. Er hatte studiert, war aber noch nicht fertig, seine Verwandten waren im Westen, er war ein ehemaliger Legionär, was in Sowjetlettland kein Statussymbol war, er hatte kein Geld, keinen Beruf und keine Arbeit, er hatte nichts. Er war frei und sollte offenbar nicht – wie man ihm gesagt hatte – hingerichtet werden. Aber das war auch alles. Er kam auf die Landstraße zwischen Jelgava und Riga, er war immer noch nicht sicher, ob dies kein Bluff sei, aber dann sagte er sich, das Vernünftigste sei doch, sich nach Riga durchzuschlagen. Er stellte sich an den Straßenrand und hoffte, als Anhalter mitgenommen werden zu können. Die Sonne schien, es war ein schöner, warmer Spätsommer, er war wieder zu Hause, er war frei, er hätte irgendwelche starken Gefühle empfinden müssen, egal welche, aber heute kann er sich nicht mehr an sie erinnern.
    Schließlich hielt ein Lastwagen an, der ihn mitnahm. Die Fahrt nach Riga dauerte zwei Stunden, und damit war der Legionär endlich wieder zu Hause.
    Stimmt das? Wurden sie wirklich im August 1946 freigelassen?
    Nicht alle, aber die meisten. Und die, die nicht freigelassen wurden, erhielten schließlich die Nachricht, dass wenigstens die anderen frei waren. Vincas Lengvelis, der Partisanenjäger, der jetzt im Lager von Riga saß und der sieben Jahre später in einem in Westdeutschland geschriebenen Erlebnisbericht von seinem Schicksal erzählte, erfuhr ebenfalls durch seine Kameraden, was mit der Gruppe

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