Die Ausgelieferten
Novelle über den Heimatlosen in einem Pariser Café. Sie mussten überall in den westlichen Hauptstädten Verwandte haben, und nicht nur dort: Teile einer Flüchtlingsarmee aus Griechenland, Spanien, Ungarn, den USA, Südamerika, dem Baltikum und ganz Osteuropa. Die Situation musste aber für den baltischen Exilpolitiker noch trostloser sein: er konnte nur auf eines hoffen, auf einen dritten Weltkrieg, der die Sowjetunion in Stücke riss. Aber war das eine billige Hoffnung? Das schien sie nicht zu bekümmern oder zu beeinflussen. Hartnäckig, heroisch und mit hoffnungsloser Beharrlichkeit fuhren sie damit fort, die Politik zu betreiben, mit der sie einmal angefangen hatten, eine Politik im luftleeren Raum: sie waren nicht gewillt, Ausgangspunkte und Ziele erneut zu überdenken, zugleich waren sie sich hoffnungslos und voller Unlust bewusst, dass die Wirklichkeit im Begriff war, sich von ihnen zu entfernen.
Irgendwo inmitten dieser eigentümlichen Welt lebte die Auslieferung der Balten wie ein schwach schlagendes Herz, wie ein Echo aus einer labileren, dramatischeren und für sie hoffnungsvolleren Zeit. Sie selbst wollten sich nicht eingestehen, dass die Welt sich verändert hatte, der Antikommunismus war ihr einziger höchst lebendiger Glaubenssatz. Waren sie zur Bedeutungslosigkeit verurteilt? »Es ist für die freie Welt von unschätzbarem Nutzen gewesen, dass es mehreren hunderttausend Balten gelungen ist, in den Westen zu gelangen. Niemand kennt das wahre Gesicht des Kommunismus besser als die Balten, und Sie haben deshalb in hohem Maß dazu beigetragen, der Welt den rechten Abscheu vor dem Kommunismus beizubringen.« Zitat aus einer Rede Birger Nermans aus dem Jahr 1954. Dieses Zitat weist auf einen zentralen Punkt hin: auf die Rolle der antikommunistischen Verkündung bei der exilbaltischen Rechten.
War das schwer zu verstehen? Eigentlich nicht, denn die Balten hatten ja fast nur die Seite der Sowjetunion und der Geschichte der Revolution kennengelernt, die merkwürdige und verblüffende Parallelen zum Imperialismus aufweist. Wurde die Sowjetunion aber immer von nationalistischen Ausgangspunkten aus kritisiert? Der Untersucher hatte mit genug sozialdemokratischen Balten gesprochen, um zu wissen, dass es eine Alternative gab. War aber die Kritik nicht allzu oft ein Angriff von ultra-konservativen, manchmal halb-faschistischen Positionen aus?
Einige schienen stehengeblieben, fixiert, mumifiziert zu sein. Die Welt veränderte sich, der Kommunismus veränderte sich, der Faschismus erlebte eine Wiedergeburt, Revolutionsbewegungen entstanden und wurden unterdrückt, es wurden Freiheitsbewegungen geschaffen, die Machtblöcke umstrukturiert. Einige widmeten sich noch immer der Aufgabe, der Welt den »rechten Abscheu« vor dem Kommunismus beizubringen, ohne dabei einzusehen, dass der Kommunismus nicht mehr mit der Sowjetunion identisch war.
Die Probleme mussten unerhört sein, weil alle moralischen Vorzeichen sich umgekehrt hatten. Der Teufel schien nicht mehr allein in Moskau zu leben, auch in Washington gab es einen kleinen Beelzebub. Gab es keine Korrelation zum Weltbild der Zeit? »Der Freiheitsmarsch des Juni-Komitees gegen die Sowjetunion und den Kommunismus vereinigte mehr als siebzehnhundert Teilnehmer. An der Spitze der Plakatträger ging eine einsame Frau mit dem Plakat ›Freiheit für das Baltikum‹. Die Mehrheit der Teilnehmer am Fackelzug waren Menschen im Alter von dreißig bis vierzig Jahren, meist Balten oder Flüchtlinge aus einem der von den Sowjets besetzten Länder hinter dem Eisernen Vorhang.« Dagens Nyheter im November 1967.
War dies nicht eine doppeldeutige Situation?
Müssen sie es nicht als paradox empfunden haben: dass sie, die einst mit angesehen hatten, wie eine Großmacht ihr Land unterwarf, und die sich dann der Aufgabe gewidmet hatten, diese Großmacht zu bekämpfen, nun eine andere Großmacht unterstützten, die im Begriff war, die Selbständigkeit eines kleinen Landes zu zertrümmern?
Über die Bedeutung der Einfrierung von Kontakten. Lettisch-schwedischer Mann, dreiundzwanzig Jahre, zweite Generation, schwedischer Staatsbürger. »Ich würde Lettland gern besuchen, aber es geht ja nicht. Es gibt Emigrantenzeitungen, in denen die Namen von Besuchern Lettlands veröffentlicht werden. Es ist, als würde man öffentlich als Verräter gebrandmarkt. Und ein Verräter möchte man ja nicht gern sein.« Warum sollte er ein Verräter sein? »Nun, wenn man nach Lettland reist, bedeutet
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