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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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in Jelgava geschehen war. »Jonas Jancys erzählte, dass die Russen unseren Freunden die Dokumente weggenommen und sie dann freigelassen hätten.«
    So bezeugen es auch alle zugänglichen Dokumente, Briefe, Aufzeichnungen, Augenzeugenberichte, so bezeugen es auch alle, die heute noch leben und von der Vergangenheit erzählen können: im August 1946 wurden mindestens neunzig Prozent aller baltischen Legionäre, die von den Schweden ausgeliefert worden waren, freigelassen und konnten nach Hause fahren.
    War es damit zu Ende? War es so einfach?
    Nein, damit war es noch nicht zu Ende. So einfach war es nicht. Das meiste der Geschichte von der Heimkehr der Legionäre bleibt noch zu erzählen. Aber eines kann mit großer Sicherheit festgestellt werden: im August 1946 wurde die überwiegende Mehrzahl der Ausgelieferten freigelassen.

2
    A nfang Juli 1967 besuchte er Lettland zum erstenmal: es war ein kurzer Besuch von nur wenigen Tagen bei klarem, hellem Hochsommerwetter. Im September desselben Jahres kam er noch einmal wieder, diesmal für längere Zeit.
    Er machte diese Reise, um mit den Ausgelieferten zu sprechen, und er sprach auch mit ihnen.
    Er reiste nicht ganz unvorbereitet. Er war von vielen Seiten gewarnt worden, hatte mit vielen gesprochen, viele Briefe erhalten, war gut präpariert worden. In den Briefen hieß es oft, dass es naiv oder absurd sei, die Legionäre besuchen zu wollen. Oder aber es hieß, er müsse ein ziemlich naiver und gutgläubiger Mensch sein, wenn er meine, aus den Wahrheiten, die man ihm auftischen werde, die »richtige« Wahrheit herausfinden zu können. Der Gedanke, die ehemaligen Legionäre in Lettland zu besuchen, ist gut, aber Sie haben sehr ungeschickt und naiv taktiert. Sie haben den russischen Behörden erzählt, warum Sie nach Lettland fahren wollen, und Sie können überzeugt sein, dass die Nachricht von Ihrer bevorstehenden Reise auch nach Riga gelangt. Dort wird man dafür sorgen, dass der Gast immer unter Aufsicht bleibt, und Ihre eventuellen Gesprächspartner und Materiallieferanten wird man gut präparieren. Ja, Sie sind naiv, Ihnen fehlt jegliche Kenntnis von dem versklavten Lettland. Sie werden überwacht werden, man wird Ihre Gespräche abhören, Sie werden mit keinem der Legionäre unter vier Augen sprechen können, man wird Ihnen einige indoktrinierte oder verängstigte und eingeschüchterte Menschen vorführen, die sagen werden, dass alles bestens sei, dass die Russen niemanden bestraft hätten, dass niemand hingerichtet worden sei, dass man alle freigelassen habe und dass alles so gut, ach so gut sei. Oh, sancta simplicitas!
    Er sprach mit vielen der in Schweden lebenden Balten, und alle warnten sie ihn, rieten ihm von dieser Reise ab. Einige versuchten sogar, ihn daran zu hindern, einige versuchten, seine Bemühungen um lettische Adressen zu torpedieren, und die meisten gaben ihm zu verstehen, dass er im Begriff sei, in eine Falle zu tappen.
    War es eine Falle?
    Es war offenkundig, dass es in den diese Auslieferung betreffenden Fragen und in den Aussagen der Ausgelieferten enorme quellenkritische Probleme gab. Es gab unzählige Fehlerquellen, ebenso war die Gefahr groß, dass die Tatsachen aus äußerlichen Gründen deformiert wurden. Zwei Augenzeugenberichte waren im Westen bereits veröffentlicht worden: einmal der Bericht von Vincas Lengvelis und zweitens der von G.J. Matisons. Es schien offenkundig zu sein, dass beide Berichte aus streng quellenkritischem Blickwinkel unbefriedigend waren; sie waren im Westen geschrieben worden und eher in der Form des Pamphlets als in der des Dokumentarberichts abgefasst. Beide enthielten sicher eine Reihe zutreffender Angaben, aber die äußere Form war leider die des antikommunistischen Pamphlets, was die Bewertung erschwerte. Sowohl Lengvelis wie auch Matisons waren von den russischen Behörden als Deutsche eingestuft und behandelt worden; man hatte sie von den übrigen Balten getrennt und später zusammen mit den Deutschen freigelassen: sie waren also keine repräsentativen Fälle und wussten über das Schicksal der anderen Balten sehr wenig zu sagen. Wenn Matison in seinem umfangreichen Bericht ein Verhör beschreibt, bei dem man ihn beschuldigt habe, bei Säuberungsaktionen unter Juden und anderen Häftlingen beteiligt gewesen zu sein, müssen sowohl die Anschuldigung, die Frage seiner Schuld, die Authentizität der Situation als auch die von ihm vorgebrachte Anklage, man habe ihn beim Verhör brutal behandelt, mit äußerster

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