Die Ausgelieferten
schrecklich warm gewesen, so dick angezogen durch den Zoll zu gehen. Wie war der Besuch verlaufen? Ihre Verwandten hätten nicht sehr viel über die Verhältnisse in Lettland erzählen wollen. Sie hätten wohl Angst. Wirkliche Kritik an der Regierung wagten sie nicht zu äußern. Der Kontakt sei anfänglich ein bisschen zögernd und unbeholfen gewesen, aber später sei es besser geworden. Bekannte von ihr hätten mehr Glück gehabt – die hätten allerhand erfahren. Dieser Besuch in Lettland sei der erste nach dreiundzwanzig Jahren. Es sei nicht ganz einfach, nach so langer Zeit einmal wiederzukommen.
Beschattung? Bewachung? Gegen 8 Uhr abends besuchte er den alten Sozialdemokraten, der am Stadtrand von Riga wohnte. »Hat man Sie beschattet?« fragte der Alte. Während des Gesprächs holte er eine Teedose aus der Speisekammer, und unter den Teeblättern lagen einige Manuskriptblätter. Ein Brief. »Man kann nie vorsichtig genug sein.« Welche Erfahrungen hatte er gemacht? »In der Stalinzeit hat man viel gelernt.« Hatte sich etwas geändert? »Man kann nie vorsichtig genug sein. Wenn Sie ein Jahr hierblieben, würden Sie wissen . Die Kontrolle, das Misstrauen, die Zensur. Sie sind zu jung, um das zu verstehen.« Am nächsten Tag ein Gespräch in einem Café. Ein junger Mann, fünfundzwanzig Jahre. »Wer in der Stalinzeit die große Angst erlebt hat, kann heute noch nicht ruhig atmen. Das ist eine Generationsfrage.« Was war die Wahrheit?
Wenn er mit den Legionären sprach, hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, gemeinsam mit ihnen die Namenlisten der Ausgelieferten durchzusehen, die er mitgenommen hatte. Sie mussten ankreuzen, welche ehemaligen Kameraden jetzt in Freiheit lebten, welche sie in den vergangenen fünf Jahren gesehen hatten, und, vor allem, diejenigen angeben, von denen sie wussten, dass sie nach der Auslieferung vor Gericht gestellt und bestraft worden waren. Keiner weigerte sich, das zu tun. Mehrere taten es mit großem Interesse, mit offensichtlicher Neugier, und gaben ausführliche Kommentare. Auf diese Weise entstand nach und nach eine synthetische Liste, eine Übersicht über das, was geschehen war, die vielleicht nicht unbedingt zuverlässig war, aber doch als die zuverlässigste aller bisherigen angesehen werden musste.
Von hundertprozentiger Sicherheit kann natürlich keine Rede sein. Die Liste befasst sich vor allein mit dem Schicksal der Letten: dem Schicksal der hundertdreißig ausgelieferten Letten. Lettland ist zwar ein kleines Land, die Entfernungen sind jedoch größer, als man glaubt. Die Verbindungen zwischen Stadt und Land sind mangelhaft, die Mobilität ist nicht die gleiche wie bei uns. Viele – die meisten – der ehemaligen Legionäre wohnen auf dem Land und haben nur wenige Verbindungen mit den in Riga wohnenden Kameraden. Es sind die letzteren, die für die Informationen verantwortlich zeichnen.
Vorläufige Zusammenfassung.
Außer vieren scheinen alle Letten im August 1946 freigelassen worden zu sein. Während des Winters lebten sie alle in Freiheit. Anfang April 1947 wurde eine Gruppe der Ausgelieferten von neuem verhaftet. In einer Reihe von Prozessen im Frühjahr, Sommer und Herbst 1947 wurden sie angeklagt, Kriegsverbrecher zu sein, und zu verschieden langen Freiheitsstrafen verurteilt; in einem Fall wurde die Todesstrafe ausgesprochen.
Es kann als einigermaßen gesichert gelten, dass die folgenden ausgelieferten Letten verurteilt wurden. Gefreiter Jekabs Balodis. Hauptmann Ernests Kessels. Unteroffizier Arvids Kaneps. Leutnant G.J. Matisons. Leutnant Paul Lielkajs. Oberleutnant Jekabs Raiskums. Gefreiter Arnolds Smits-Petersons. Instruktor Gustavs Vilks. Hauptmann Villis Ziemelis. Oberstleutnant Karlis Gailitis. Leutnant Olgert Lacis. Leutnant Oscars Recis. Leutnant Peteris Ziemelis. Instruktor Augusts Kaneps. Gefreiter Manfreds Liepins. Gefreiter Evalds Liepins. Gefreiter Valentin Silamikelis. Dr. Elmars Eichfuss-Atvars.
Dies sind achtzehn Namen, die als einigermaßen gesichert gelten können.
Hinzu kommt eine Reihe von Männern, die man nicht mit Sicherheit als Verurteilte bezeichnen kann. Es sind neun Namen. Alberts Celmins, Peters Apkalns, Voldemars Eltermanis, Valdis Knoks, Herberts Aunins, Janis Jekabssons, Oscars Krastins, Janis Teteris, Jekab Zutis . Vor ein paar dieser Namen wurden in der Liste des Untersuchers Fragezeichen gesetzt, bei einigen ist von exillettischer Seite behauptet worden, sie seien verurteilt worden. Es gibt jedoch keine Beweise. Man
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