Die Ausgelieferten
entspricht etwa 4,60 DM. Acht Prozent gehen für Steuern drauf, für die Miete noch weniger. Er gibt an, recht nett zu wohnen. Seine Wohnung hat vierundzwanzig Quadratmeter, Flur und Küche nicht mitgerechnet. Da die Innenstadt des alten Riga noch nicht modernisiert ist, ist seine Wohnung – besonders, wenn man sie nach schwedischen Maßstäben misst – nicht sehr gut. Er könnte natürlich in irgendeine der Schlafstädte ziehen, die um Riga herum aus dem Boden wachsen, aber er mag sie nicht, sie seien zwar modern, aber unpersönlich, er hält sie für hässlich. Den alten Stadtkern Rigas liebt er sehr. Seine Frau arbeitet mit und verdient etwa 100 Rubel im Monat. Er sagt, sie kämen gut zurecht.
Die Freiheit? »Früher«, sagt er, »gab es keine Freiheit. Man konnte nicht die Klappe aufmachen, ohne Gefahr zu laufen, verhaftet zu werden. Folglich machte niemand die Klappe auf. Man lernte, den Mund zu halten. Jetzt brauche ich nicht mehr den Mund zu halten, obgleich ich mich natürlich nicht auf die Straße stellen und herausbrüllen kann, dass das Regime beschissen ist.« Ist das Regime beschissen? »Jetzt nicht mehr.« Seine politische Einstellung? »Ich bin Sozialist.« Kann er das Regime kritisieren? »Ich darf Missstände kritisieren.« Tut er das auch? »Ich schreibe nicht dauernd Leserbriefe, das kann ich nicht. Aber Angst habe ich nicht.« Glaubt er, in einem Polizeistaat zu leben? »Nein.« Halten andere Lettland für einen Polizeistaat? »Das ist eine Generationsfrage. Man muss unterscheiden zwischen denen über und unter – na, sagen wir vierzig. Wem die dreißiger Jahre noch in den Knochen sitzen, der kann schwer vergessen. Es fällt ihnen schwer, sich in der heutigen Zeit zurechtzufinden. Sie können sie nicht akzeptieren. Sie haben die bürgerliche Zeit erlebt, und aus denen werden nie Sozialisten.« Er selbst? »Ich akzeptiere den heutigen Staat.« Ist er Nationalist? »Aber ja, ich bin stolz, Lette zu sein. Aber nicht in der Weise, dass ich Lettland von der Sowjetunion loslösen möchte. Das wäre dumm.«
Schweden?
»Schweden ist ein gutes Land«, meint er. »Nach meiner Rückkehr nach Lettland habe ich eine Menge über Schweden gelesen. Ich mag die Schweden, sie sind ein friedliebendes Volk, so was brauchen wir heute. Sie haben mehrere hundert Jahre Frieden halten können, und ein solches Volk bewundere ich.« Aber sie haben Sie doch ausgeliefert? »Ja, das schon, das war ja richtig mies. Das war ’ne schwache Leistung.« Aber Sie sagen doch, dass es Ihnen jetzt gutgeht? »Das hat mit der Sache nichts zu tun. Es war auf jeden Fall eine schwache Leistung. In Lettland bewundern sehr viele Menschen Schweden. Wir lesen von der schwedischen Zeit im siebzehnten Jahrhundert, wir nennen sie ›die gute Schwedenzeit‹. Ich glaube, dass die meisten Letten sich für Schweden interessieren und es bewundern. Haben die Schweden ein ebenso großes Interesse für Lettland? Ach so, nicht. Aha.« Aber Sie sollten die Schweden doch eigentlich hassen, weil sie Sie ausgeliefert haben? »Nein, nein – das haben wir vergessen, Hass empfinde ich nicht: denken Sie doch nur an die vielen Demonstrationen für uns, an die Zeitungen, die Artikel, das werde ich nie vergessen. Das zeigt, dass die Schweden ein gutes Volk sind.«
Sie haben Sie aber trotzdem ausgeliefert?
»Ja«, sagt er mit einem schwachen, aber deutlichen Lächeln, »ja. Ich habe aber in meinem Leben etwas gelernt: zwischen einem Volk und einer Regierung zu unterscheiden. Zwischen den Menschen und der Politik.«
Und die, die nicht bestraft wurden? Die an einem Augusttag des Jahres 1946 in die Freiheit entlassen wurden und nie mehr in einem Lager sitzen sollten? Wie erging es ihnen?
Sie waren immerhin die Mehrheit, die nicht Bestraften. Gab es eine andere Strafe für sie als die Strafe?
Sie fanden bald heraus, dass sie in ein vom Krieg verwüstetes Land gekommen waren, in dem Arbeitskräfte sehr gesucht waren. Vor Arbeitslosigkeit brauchten sie sich nicht zu fürchten. Sie sollten aber auch entdecken, dass ihrer Freiheit Grenzen gesetzt waren, dass die Spuren der Zeit in Schweden und der Jahre in der deutschen Wehrmacht nicht so leicht auszuradieren waren. Sie entdeckten bald, dass sie von den Behörden geduldet wurden, dass sie arbeiten und in Freiheit leben durften, aber das war auch alles. Die Universitäten waren ihnen versperrt, jede Weiterbildung war unmöglich, selbständige, leitende Posten erreichen zu wollen war aussichtslos. Arbeiten durften
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