Die Ausgelieferten
die sich schließlich gegen alle Aussagen richtete, und einem wachsenden Widerwillen gegen diese Skepsis hin und her zu pendeln – die Skepsis tendierte ja dazu, mechanisch zu werden. Er wusste aber, dass jede Andeutung, nicht alle Ausgelieferten seien Heilige gewesen, einen wütenden Proteststurm auslösen würde. Die Ausgelieferten waren in Schweden schon seit so langer Zeit als politisches Argument gebraucht worden, dass man völlig vergessen hatte, dass auch sie Menschen waren, gute und böse, starke und schwache, kluge und dumme, Verbrecher und Heilige. Dass sie Menschen waren. Warum konnte man das nicht zugeben? Dass es absolut denkbar war, dass es unter diesen hundertsechsundvierzig ausgelieferten Balten, die einmal von ihrem Land zu uns geflohen waren, auch eine kleine Gruppe geben konnte, die man als Kriegsverbrecher bezeichnen musste? Alle Angeklagten und Verurteilten brauchten es nicht zu sein, Anklagen können falsch oder übertrieben sein. Aber einige ? Und dass dies weder einen Schatten auf die anderen Ausgelieferten warf noch überhaupt etwas mit der Beurteilung der Auslieferung zu tun hatte? Wenn die Informationen, die er in Lettland erhalten hatte, der Wahrheit entsprachen, wenn die vierzehn Legionäre, mit denen er gesprochen hatte, die Wahrheit gesagt hatten, so bedeutete das, dass mehr als hundert Ausgelieferte auch von den sowjetischen Behörden für unschuldig befunden worden waren – unschuldige Opfer einer Zwangsmobilisierung, unschuldig an Kriegsverbrechen. War es nicht wichtig, das festzustellen? Dass auf mehr als hundert der Ausgelieferten kein Makel lastete? War es denn nicht wichtig, das Problem zu differenzieren und jeden einzelnen für sich zu betrachten? Es waren doch schließlich Individuen! Und dies ohne Moralismus und – wenn möglich – ohne Vorurteile zu tun?
Die Informationen, die man ihm gegeben hatte, mussten mit Skepsis, mit Abstand geprüft werden, das war selbstverständlich. Aber er dachte oft: es ist jetzt endlich an der Zeit, dass wir diese Ausgelieferten, ihre Schicksale, ihre Verzweiflung, ihre Irrtümer und ihre Geschichte gelassen betrachten, dass wir sie nicht für einen Haufen von Engeln halten, sondern für eine Gruppe völlig verschiedener Menschen.
Und schließlich kommt doch noch ein Bericht. Denn trotz aller Vorbehalte gibt es eine Geschichte von der Heimkehr der Balten, die sich erzählen lässt.
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C ikste – er lag im Lazarett von Kristianstad, ebenso wie Kessels und Eichfuss. Auf manchen Bildern kann man ihn erkennen: er ist ein Mann mit einem mageren, scharfgeschnittenen Gesicht und sehr dunklem Haar. Heute ist er Chefkonstrukteur einer Fabrik in Riga, er ist sehr erfolgreich, korrekt gekleidet, noch schlank und hat eine dunkle Haarmähne. Sein Deutsch ist ausgezeichnet, er spricht schnell und flüssig. Das Zimmer ist stickig, ein Ventilator surrt, aber die Hitze ist entsetzlich drückend. Es ist Sonnabend. Während der ersten halben Stunde lässt er die Fragen sehr ungeduldig über sich ergehen; er ist höflich und ironisch zugleich. Er spricht wie in rastloser Verachtung, die in viele Richtungen geht: gegen den Fragesteller, die Schweden, die Hitze, die Problemstellung, gegen die Welt, in der er lebt. Vor allem aber ist er ungeduldig, weil er Fragen erörtern soll, die zwanzig Jahre alt sind und aus einer Zeit stammen, an die er nie mehr denkt; vergangene Zeit, vergessene Erfahrungen. Er ist ungeduldig, weil er, ein arrivierter Mann in gehobener Position, wieder an eine Zeit erinnert wird, in der er freiwillig oder gegen seinen Willen mit den Feinden des Staates zusammengearbeitet hat. Diese Tatsache kann ihm nicht mehr schaden, aber sie irritiert ihn. Auf die Fragen reagiert er ebenfalls ungeduldig, er findet sie einfältig, er fühlt sich durch den Fragesteller irritiert, weil er diesen als einen Repräsentanten der Schweden empfindet, die ihn einmal ausgeliefert haben. Nach einer Weile wird er, fast gegen seinen Willen, interessiert, und versucht, einen Abriss der damaligen Ereignisse zu geben. Er spricht mit dem knochenharten Unwillen des Wissenschaftlers, der sich nicht gern über Dinge äußert, die er genau weiß oder kennt. Er unterscheidet peinlich zwischen Dingen, die er weiß, die er gehört hat, die er für wahrscheinlich hält und solchen, die er für unwahrscheinlich hält. Unbewiesene Behauptungen werden mit schnellen, irritierten Handbewegungen abgetan. Auf den ersten, oberflächlichen Blick hält man ihn für einen Menschen, dem
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