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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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Angst gehabt haben. Manchmal logen sie mich an, man sieht es, wenn Menschen einen anlügen, sie logen grob und offensichtlich.
    – Das ist etwas anderes, sagt er. Sie müssen unsere Lage verstehen – die gesamte Situation. Wir kamen nach Lettland zurück, wir hatten in der deutschen Wehrmacht gekämpft. Die Deutschen waren schon vor dem Krieg in weiten Bevölkerungskreisen verhasst, und die Deutschenfreunde waren schon längst geflohen. Die Deutschen hatten weite Teile des Landes verwüstet, Hunderttausende von Zivilisten ermordet. Die Konzentrationslager wurden geöffnet, und jeder konnte sehen, was geschehen war. Die Russen waren zwar auch nicht sonderlich beliebt, aber die meisten Antikommunisten waren ebenfalls im Westen. Außerdem haben die Russen uns beim Wiederaufbau des Landes geholfen, und … na ja, sie wurden zu Arbeitskameraden. Nicht die Bürokraten, sondern die einfachen Russen. Die Deutschen aber waren die Sadisten und Mörder, die es zu hassen galt. Und wir hatten also in der deutschen Wehrmacht gekämpft – es gab eine psychologische Sperre, eine Mauer zwischen denen, die mit den Deutschen gekämpft hatten, und den Partisanen und Männern des passiven Widerstands. Die meisten von uns waren zwar zwangseingezogen, aber man sprach einfach nicht darüber , dass man in der Wehrmacht gedient hatte. Verstehen Sie?
    – Vielleicht …
    – Stellen Sie sich vor, ein … ja, ein Franzose hätte sich freiwillig zur deutschen Wehrmacht gemeldet. Oder ein Norweger. Freiwillig oder unfreiwillig – man spricht nicht gern darüber. Hier im Osten schon gar nicht.
    – Ist es auch Ihnen unangenehm?
    – In gewisser Weise ja, wenn auch nicht so sehr. Ich kann aber dafür garantieren, dass keiner der Legionäre, mit denen Sie hier sprechen, gern in dieser Scheiße herumrührt. Sie können noch so freundlich sein, und Angst vor Strafe haben sie auch nicht, aber sie mögen einfach nichts mehr von der Geschichte hören.
    – Aber für uns Schweden ist es immer noch ein Problem …
    – Gut. Dann ist es Ihr Problem. Behalten Sie’s. In diesem Fall ist es kein baltisches Problem mehr, sondern nur noch ein schwedisches. Gut. Behalten Sie’s für sich.
    – Haben Sie Angst vor mir, weil ich Ausländer bin? Angst, mit mir zu sprechen?
    – Heute?
    – Ja.
    – Nein.
    – Die Exil-Letten, die Lettland besuchen, sagen etwas anderes.
    – Oh, das ist etwas ganz anderes. In manchen Kreisen gehört es nicht zum guten Ton, mit den Exil-Leuten zu verkehren, und das ist nicht nur unsere Schuld oder die Schuld der Regierung. Die kommen mit ihren guten Kleidern her, wittern in jedem Gebüsch einen Politruk und benehmen sich wie Spione, obwohl sie keine sind. Sie verstehen unsere Situation nicht. Sie kommen her, setzen sich hin und warten darauf, dass wir mit unseren Jeremiaden beginnen. Sie sehen die Unzufriedenheit hier, aber nicht unseren Stolz über das bereits Erreichte. Sie können einem manchmal ganz schön auf die Nerven gehen, und man spricht mit ihnen am besten unter vier Augen.
    – Und mit mir?
    – Schreiben Sie, was Sie wollen.
    – Sind Sie ganz aufrichtig?
    – Schreiben Sie. Schreiben Sie auf, was ich Ihnen gesagt habe.
    Ehemaliger Offizier, bald sechzig, nicht bestraft. Nachdem er zu Ende gesprochen hat, nachdem er alles gesagt hat, was er hat sagen müssen, nachdem er demonstrativ auf seine Uhr gesehen hat und das Gespräch schließlich mit seiner eiskalten Wortkargheit zu einem versickernden Rinnsal hat werden lassen, nachdem er schon »Auf Wiedersehen« gesagt und die Tür geöffnet hat, setzt er ein breites hintergründiges Lächeln auf.
    – Oh, ich habe etwas vergessen, sagt er. Ich glaube, ich muss schöne Grüße an Schweden ausrichten lassen. Sie haben uns ja damals ausgeliefert, weil sie Kohle brauchten. Ich hoffe, dass es in Schweden jetzt genug Kohle gibt. Die Schweden haben polnische Kohle gekauft und mit uns bezahlt. Ich bin sehr froh, einen kleinen Beitrag zur Erwärmung schwedischer Wohnungen geleistet zu haben.
    Danach geht er rasch aus der Tür. Zurück bleiben zwei Kaffeetassen, ein Häufchen Zigarettenstummel in einem Aschenbecher, ein Schwede. Es ist Vormittag. Das Gespräch hat zwei Stunden gedauert und muss als missglückt bezeichnet werden.
    Er war neunzehn, als er nach Schweden kam, wo er auch seinen zwanzigsten Geburtstag feierte. Heute ist er einundvierzig. Er wohnt in Riga, ist verheiratet, hat aber keine Kinder.
    Er ist Schwerarbeiter, sein Monatslohn beträgt 120 Rubel, ein Rubel

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