Die Ausgelieferten
jede Furcht fremd ist, es ist aber denkbar, dass seine Verachtung in Furcht wurzelt oder dort einmal ihren Anfang genommen hat. Er verachtet auch die Schweden, die ihn ausgeliefert haben, »obwohl man uns versprochen hat, wir dürften bleiben«. Reste von Bitterkeit lassen sich aber kaum erkennen. Er gehört zu den wenigen, denen es ausgezeichnet geht. Er ist verheiratet, hat Kinder. Als endlich die letzte Frage gestellt ist, erhebt er sich rasch, schüttelt dem Untersucher auf eine fast routinierte Weise die Hand und verlässt den Raum mit schnellen Schritten und in selbstsicherer Haltung, ohne sich umzusehen. Dieses erste Interview hat eine Stunde und zwanzig Minuten gedauert, es ist recht unergiebig gewesen, wenn man von dem allgemeinen Eindruck absieht, dass Cikste nicht bereit zu sein scheint, das Problem von neuem zu durchdenken. Dies ist ein schwedisches Problem und nicht seins. Er überlässt es uns gern, mit großzügiger Geste. Am Sonnabendnachmittag fährt er immer mit seiner Familie zu seinem Sommerhäuschen hinaus; er ist bereits zwei Stunden verspätet.
Der Soldat S.P. »Wir wussten eigentlich recht wenig voneinander – jeder behielt seine Geheimnisse für sich. Wir kamen ja aus verschiedenen Ecken. Die ›Gotländer‹ – unter denen sich ja die meisten Offiziere befanden – hatten ja oft nicht an der Front, sondern hinter der Kampflinie Dienst getan. Es wurden manchmal Geschichten über sie erzählt, es waren Gerüchte, aber etwas Genaues wussten wir nicht. Von Lapa zum Beispiel ging das Gerücht, dass er allerhand auf dem Gewissen hätte. Irgendwas mit Juden. Aber etwas Genaues wusste niemand. Ich erinnere mich nur noch daran, dass im Lager eine Menge Unterstellungen und Gerüchte herumgingen.«
S. arbeitet heute als Biologe. Sein Examen hat er 1959 an der Universität Riga abgelegt. Die Verzögerung in seiner Studienzeit beruht zum Teil darauf, dass er in den Jahren 1947 bis 1953 in einem Arbeitslager in der Nähe des Urals gesessen hat.
Es ist spätabends, es sind nicht mehr viele Menschen im Park. Es ist September, Altweibersommer, Herbst, trotzdem kann man in Riga bis in die Nacht im Hemd herumlaufen. Hier können sie sprechen. Niemand stört sie.
Oberschrift: Gespräch über Aufrichtigkeit und Furcht.
– Erzählen Sie mir, sagt der Schwede, was ich schreiben darf und was nicht. Sagen Sie mir, was unter uns bleiben soll, was Ihnen schaden könnte, was gedruckt werden kann. Ich möchte nicht den Tod eines Menschen auf dem Gewissen haben, darum erzählen Sie mir, was ich verschweigen soll.
Der Gesprächspartner ist mittleren Alters und spricht ein gutes Deutsch.
– Sie missverstehen meine Situation, sagt er. Ich stehe für alles ein, was ich gesagt habe. Ich stehe für das ein, was ich über meine Erlebnisse berichtet habe. Es ist die reine Wahrheit, denn ich habe das alles selbst erlebt. Schreiben Sie nur alles auf.
– Aber könnte Ihnen das nicht Unannehmlichkeiten bereiten? Was Sie über die Lagerzeit sagen? Über Gerichtsverhandlungen, über Urteile?
Damals war er Offizier. Er wurde verurteilt, freigelassen (1954), kehrte aber erst 1957 nach Lettland zurück.
– Während der Stalinzeit, sagt er, hätten Sie überhaupt nicht mit mir sprechen dürfen. Die hätten es Ihnen vielleicht erlaubt, aber ich hätte mich nie auf eine Unterhaltung eingelassen. Ich hätte es nie gewagt, die Wahrheit zu sagen oder gar mit einem Fremden zu sprechen. Man hätte uns bestimmt beschattet, und das Gespräch hätte … hätte mir sehr geschadet. Und selbst wenn Sie mit mir hätten sprechen dürfen – ich hätte Ihnen nicht die Wahrheit gesagt. Ich hätte Ihnen genau die Wahrheit erzählt, die den Stalinisten in den Kram gepasst hätte, ich hätte Sie belogen und hinters Licht geführt. So war es damals, in der Stalinzeit, es hat aber keinen Zweck, Ihnen diese Zeit näher zu schildern, Sie würden doch nichts verstehen. Sie würden diese Furcht nicht begreifen, die uns immer und überall beherrschte. Vielen von uns sitzt diese Angst noch immer in den Knochen; wer sie einmal erlebt hat … ja, sie ist wie eine Narbe. Unter Chruschtschow wurde es besser, und heute … ja. Schreiben Sie ruhig auf, was ich Ihnen sage. Ich kann Ihnen von der Lagerzeit erzählen, sie war furchtbar, aber vielleicht doch nicht so entsetzlich, wie viele behaupten.
– Aber einige, mit denen ich gesprochen habe, waren sehr ängstlich. Ich habe sie mir angesehen. Sie waren kurz angebunden, unwillig, reserviert. Sie müssen
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