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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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sie, sie bekamen den gleichen Lohn wie die anderen auch, aber qualifizierte Berufe waren für sie unerreichbar. Sie schienen die Neger der Sowjetgesellschaft zu sein, die zwar scheinbar frei, aber doch innerhalb unsichtbarer Mauern gehalten wurden. »Wir wurden als Menschen zweiter Klasse angesehen, nicht wie andere. Wir waren nicht so gute Menschen wie die anderen. Nicht so gute Patrioten wie die anderen. Wir bekamen die schlechtesten Arbeiten, nicht gerade die am schlechtesten bezahlten, aber nur solche, die geringen Prestigewert hatten. Etwas schlechtere Wohnungen nach etwas längeren Wartezeiten.«
    Angaben dieser Art machten viele; man kann davon ausgehen, dass sie zuverlässig sind. Diese Periode hat einen Anfang und ein Ende. Mit Stalins Tod war sie vorbei: danach änderten sich die Verhältnisse völlig. Von den jüngeren Legionären schrieben sich in diesem Jahr viele an der Universität ein. »Eine Woche nachdem wir vom Tod Stalins erfahren hatten, stellte ich einen Antrag auf Zulassung zum Universitätsstudium. Und jetzt ging es, mit einem Mal. Da begriff ich, dass sich etwas geändert hatte.«
    Gespräch am nächsten Vormittag: Spaziergang an der Daugava.
    – Gestern hat mir jemand erzählt, dass er sich bis 1953 als Mensch zweiter Klasse gefühlt habe. Ist das möglich?
    Schnelle Reaktion.
    – Ein Mensch zweiter Klasse? Ich war ein Mensch dritter Klasse, bestenfalls! Ich war nicht so gut wie die anderen!
    – Wie lange hat diese Zeit gedauert?
    – Stalins Tod hat alles verändert. Es war, als käme man um eine Ecke und sähe eine neue Wirklichkeit.
    Furcht? Freiheit?
    – Sie müssen verstehen, sagten sie ihm, die Furcht hat viele Seiten. Sie glauben, dass wir nur eine Angst kennen: verhaftet oder nach Sibirien geschickt zu werden. Diese Angst haben einige gespürt, ich allerdings nicht. Heute braucht niemand mehr Angst zu haben. Es gibt aber noch andere Ängste. Die Angst vor einem unsichtbaren Widerwillen. Davor, dass der Nachbar etwas erfährt. Es gibt viele Strafen. Man kann eine Strafe nicht nur nach Haftjahren messen, Gefangenschaft bedeutet nicht nur, in einem Arbeitslager eingesperrt zu sein. Mein Nachbar hat durch die Deutschen seine Frau und seine Kinder verloren. Sein Vater saß in einem KZ, hat aber überlebt. Ich war in der deutschen Wehrmacht, zwangsrekrutiert zwar, aber immerhin. Wenn wir miteinander sprechen und zufällig auf diese Dinge kommen, wird der Stacheldraht zwischen uns gespannt. Dann bin ich der Gefangene und von neuem bestraft. Verstehen Sie?
    – Warum erzählen Sie mir das alles?
    – Weil die Zeit trotzdem weitergeht. Weil sich alles verändert. Weil ich Ihnen erklären möchte, was mit den Gestraften und den nicht Gestraften geschehen ist.
    Es gab andere, die sagten:
    – In einem Arbeitslager gesessen zu haben ist so normal, dass kein Mensch reagiert, wenn man es erzählt. Die meisten Letten haben Angehörige, die kürzere oder längere Zeit in einem Lager gesessen haben. Bis 1950 gab es in regelmäßigen Abständen Deportationen. Es ist schwieriger, jemanden zu treffen, der nicht in einem Lager gesessen hat, als umgekehrt. Wir sind eine geläuterte Nation.
    Als er ausgeliefert wurde, war er gerade siebzehn geworden. Von der Zeit in Schweden erinnert er sich am besten an den Zwischenfall mit Vabulis. Er saß im selben Bus wie dieser, Vabulis genau gegenüber, und wenn er zu demonstrieren versucht, wie es zugegangen ist, füllen seine Augen sich plötzlich mit Tränen, und er verstummt. Er ist Arbeiter, seine Schicht beginnt um 20 Uhr, seine Frau arbeitet in einer Buchhandlung in der Innenstadt Rigas. Seine Hände hält er zwischen den Knien, er presst sie zusammen und sieht den Schweden ruhig an.
    »Er durfte ja dableiben«, sagte er nach einer Pause. Wer? »Vabulis.« Allerdings. »Wohnt er heute in Schweden?« Nein, er starb auf dem Kai. »Er ist tot?« Ja. »Das habe ich nicht gewusst.« Er schweigt eine Weile. »Das habe ich nicht gewusst. Ja«, sagte er, »ich habe ihm ja gegenübergesessen, ja. Ach so.«
    Janis Slaidins, der Arzt, war der erste, der freigelassen wurde, schon nach einer Woche, man brauchte ihn. Er arbeitete, machte Karriere. Er wird von vielen als erfolgreich bezeichnet. Im Herbst 1967 hat er seine Promotion nachgeholt. Auf Fragen, ob die Zeit in Schweden und die davorliegenden Ereignisse seiner Karriere hinderlich gewesen seien oder sie verzögert hätten, antwortet er mit Nein, jedoch mit einem steifen und ausweichenden Gesichtsausdruck: seine

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