Die Ausgelieferten
auf den Zuhörerbänken.« Wie reagierten Sie? »Es war mir sehr unangenehm.« Inwiefern? »Es war sehr unangenehm, das ist alles, was ich noch weiß. Ich machte meine Aussage und ging dann auf dem schnellsten Weg nach Hause.« Können Sie sich noch an etwas anderes erinnern? »Nein.«
Wie es zu dem Jahr in Freiheit kam.
»Es war sehr merkwürdig, dass die Prozesse nicht sofort, sondern erst 1947 begannen. Wir lebten zuerst ein halbes Jahr in Freiheit.« Woran lag das? »Die mussten wahrscheinlich erst ihre Papiere sichten. Damals herrschten ja überall chaotische Zustände, so kurz nach dem Krieg.« Gab es einige, die nie freigelassen wurden? »Ja. Ich kenne vier von uns, die man nie auf freien Fuß setzte: Recis, Balodis, Zeteris Ziemelis und Eichfuss.« Können noch mehr Letten darunter gewesen sein? »Vielleicht, aber nicht viel mehr. Ich glaube, dass diese vier die einzigen waren, die ständig in Gefangenschaft blieben.« Und wie stand es mit den Litauern? »Über die weiß ich nichts. Unter denen gab es ja mehrere Baltendeutsche, die man wohl zusammen mit den Deutschen abgeurteilt hat.«
Villis Ziemelis, angeklagt, in einem Polizeibataillon gedient zu haben. Jekabs Raiskums, verurteilt, weil er Offizier in einem Polizeibataillon gewesen war. Paul Lielkajs, angeklagt, als Offizier in einem Polizeibataillon gedient zu haben.
Was bedeutete das? Warum wurde das als besonders gravierend angesehen?
Für einen Menschen aus dem Westen ist es noch heute schwer zu beurteilen, was während des Zweiten Weltkriegs in den baltischen Ländern geschehen ist. Einerseits gibt es eindeutige Beweise dafür, dass es während der ersten Zeit unter den Russen, von 1940 bis 1941, zu Deportationen in den Osten gekommen ist. Andererseits gibt es aber auch klare Beweise dafür, dass während der deutschen Besetzung weit furchtbarere Massenmorde vorgekommen sind, Massaker an Juden, Kommunisten und Zivilisten, deren Ausmaß man noch heute nicht genau überblicken kann. Manche Fakten scheinen jedoch auch von westlicher Seite für gesichert gehalten zu werden. Die Ausrottung der Juden Lettlands war die effektivste und gründlichste in ganz Europa: 89,5 Prozent der lettischen Juden wurden liquidiert. 85.000 in den ersten zwei Jahren. Hilfe bekamen die Deutschen von lettischen Kollaborateuren, die in Einsatzgruppen organisiert wurden. Diese gab es natürlich nicht nur in Lettland – »im September 1941 raste eine lettische Gruppe, die zum Einsatzkommando 3 gehörte, über Raseinyai, Rokishkis, Sarasi, Perzai und Prienai hinweg und tötete alle Juden in diesem Gebiet – in nur drei Monaten war es dem Kommando mit lettischer Hilfe gelungen, 46.692 Juden umzubringen« ( The Destruction of the European Jews ). Die von den Deutschen eingesetzten lettischen Polizeiverbände erreichten eine ähnliche Effektivität, sie wurden mit der Zeit gefürchtet und gehasst, und die bloße Anklage, kürzere oder längere Zeit einem hinter der Front operierenden Polizeiverband angehört zu haben, wurde nach dem Krieg für die Betroffenen praktisch schon zu einem Urteil. Welche lettischen Volksgruppen wurden liquidiert? Selbstverständlich alle Juden und Kommunisten, aber auch andere. Zwischen dem 1. und dem 31. Juli 1941 wurden im Bikierni-Wald in Lettland 24.625 Juden umgebracht. Verantwortlich für diese Aktion waren deutsche SS-Männer, lettische Polizisten, deutsche Nazis, deutsche SS-Verbände, lettische Kollaborateure: im Osten wie im Westen gibt es viele Dokumentensammlungen, die lettischen Kollaborateuren schwere Verbrechen vorwerfen. Wer will die Wahrheit herausfinden, ohne die Original-Dokumente studiert zu haben?
Innerhalb der Einsatzgruppe A wurden fünf lettische Polizeikompanien aufgestellt, die bei Säuberungs- und Terroraktionen eingesetzt wurden. Die lettischen Säuberungsgruppen waren vor allem während des ersten Jahres der deutschen Besetzung sehr aktiv: sie begannen schon während der Sommermonate damit, hinter der zurückweichenden und zersplitternden russischen Front zu operieren, und als die Deutschen Lettland besetzten, stellten sie fest, dass sie sogleich auf ausgebildete und willige lettische Handlanger zurückgreifen konnten. Mitunter allzu willige: Bericht eines deutschen Bezirkskommandeurs in Lettland, Oktober 1941. »Ich bin überzeugt, dass die ständigen Hinrichtungen von Kommunisten, die gegenwärtig stattfinden, auf Teile der Bevölkerung einen äußerst ungünstigen Eindruck machen. Ich will nicht leugnen, dass Vidzeme
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