Die Ausgelieferten
zum Teil im Kriegsarchiv. Er unternahm wiederholte Vorstöße; die Militärbehörden befürworteten sein Gesuch, aber die Regierung sagte nein. Diese Korrespondenz wuchs sich bald zu einer ansehnlichen Akte aus. Es blieb aber bei dem ablehnenden Bescheid, der unter anderem damit begründet wurde, dass in dieser Sache auch das Verhältnis zu einer fremden Macht berührt werde. Der Untersucher konnte jedoch feststellen, dass diese fremde Macht (die Sowjetunion) bedeutend kooperativer und entgegenkommender zu sein schien als die schwedischen Behörden. Es hatte den Anschein, als sei es leichter, an russische Archive als an schwedische heranzukommen. Es ist jedoch unmöglich, daraus irgendwelche Rückschlüsse zu ziehen auf die einem Staatsbürger gegebenen Möglichkeiten, Einblick in die Geschäfte des Staats zu gewinnen. Er schrieb dies in einem Brief an einen schwedischen Minister. »Ich habe nicht den Eindruck gewonnen, dass Schweden ein Polizeistaat ist. Ich ziehe aus dieser Sache keine übereilten Schlüsse. Die größere Offenheit seitens der Sowjetunion kann sehr wohl nur scheinbar sein, zufällig oder durch taktische Erwägungen diktiert. Diese meine Erfahrungen sind keineswegs ein Beweis dafür, dass die Sowjetunion ein reineres Gewissen hat als Schweden.«
Unter den Dokumenten, die er einzusehen wünschte, befanden sich auch einige, die die nicht ausgelieferten Legionäre betrafen. Er bat um Angaben über Oscars Lapa, Edvard Alksnis und Peteris Vabulis. Lapa und Vabulis hatten in Schweden Selbstmord begangen. Alksnis hatte sich einen Bleistift ins Auge getrieben und wohnte jetzt in London. Was konnten die sowjetischen Archive über sie berichten?
Nach zwei Tagen wusste er Bescheid.
Über Edvard Alksnis und Peteris Vabulis gab es in den Archiven nichts, was zu einer Verhaftung hätte führen können. Sie hatten zwar in deutscher Uniform gekämpft, hatten sich aber keines Kriegsverbrechens schuldig gemacht. Ihr Waffenschild war fleckenlos, und wenn sie hätten ausgeliefert werden können, wären sie vermutlich zusammen mit den anderen freigelassen worden.
Im Fall Oscars Lapas ergab diese Testfrage jedoch ein etwas anderes Ergebnis.
Oscars Lapa war Apotheker, in Liepaja geboren. Während der dreißiger Jahren war er Mitglied einer halbfaschistischen Organisation namens »Personkrusts« (Das Gewitterkreuz). 1942 kam Oscars Lapa zur SS und durchlief anschließend eine SD-Schule in Fürstenwalde. Im Mai 1942 wurde er einem Kommando zugeteilt, das einem gewissen Viktor Arajs unterstand. Über diesen Mann gibt es eine ausführliche und sehr zuverlässige Dokumentation, auch im Westen. Er wird in den meisten Untersuchungen als schwerer Kriegsverbrecher bezeichnet; unter seinem Kommando wurden in Lettland sehr umfassende Vernichtungsaktionen durchgeführt. Sowjetische Quellen geben an, dass man in ihm den Verantwortlichen für die Liquidierung von gut hunderttausend lettischen, litauischen, weißrussischen, ukrainischen und polnischen Kriegsgefangenen sehen müsse.
Welche Rolle Oscars Lapa in diesem Kommando spielte, wird in den Akten nicht erwähnt. Dort ist bloß vermerkt, dass er den Rang eines SS-Untersturmführers bekleidete und Chef einer Gruppe von 25 Mann war.
Diesem Kommando gehörte er zwei Jahre an. Im Frühjahr 1944 taucht er wieder in den Akten auf – um diese Zeit kam er nach Liepaja, wo er als SD-Offizier arbeitete. Über diese Zeit gibt es keine Berichte. Im Herbst 1944 kam er zur 15. lettischen SS-Division, einem Verband, der größtenteils aus zwangsrekrutierten jungen Letten bestand, die man schlechtbewaffnet an die Front schickte, wo sie zur Hälfte aufgerieben wurden. Anschließend wurde diese Division nach Deutschland geschickt, um reorganisiert zu werden. Ein kleiner, versprengter Trupp der Division floh im Frühjahr 1945 von Danzig nach Bornholm und anschließend weiter nach Schweden. Unter diesen Männern befand sich auch Oscars Lapa.
Was hatte er während der zwei Jahre in dem Kommando Viktor Arajs gemacht? Es ist zwecklos, Spekulationen anzustellen, er ist tot; man konnte ihn nicht vor Gericht bringen. Der lettische Historiker, der die Archive durchgesehen hat und dabei eine gewisse, wenn auch oberflächliche Kenntnis von sowjetischer Justizpraxis in der damaligen Zeit erhalten hat, hält es auf jeden Fall für wahrscheinlich, dass man Oscars Lapa den Prozess gemacht hätte, wenn er ausgeliefert worden wäre. Wäre er verurteilt worden? Wessen hätte man ihn anklagen sollen? Eine
Weitere Kostenlose Bücher