Die Ausgelieferten
übriggelassene Brotstücke und halb geleerte Teller. Auch die Löhne wurden jetzt besser. – Wie war die Behandlung im Lager?
– Man kann sagen, dass die Wachen uns im allgemeinen anständig behandelten. Ich selbst bin nie misshandelt worden und habe auch keinen Fall von Brutalität gesehen. Dagegen habe ich gehört, wie es in den ersten Jahren zugegangen ist, gleich nach dem Krieg. Damals soll es zu Misshandlungen gekommen sein. Ich will diese Dinge nicht verteidigen, aber man sollte bedenken, wie erregt die Stimmung kurz nach Kriegsende gewesen ist. Die Russen hassten alles Deutsche, sie hassten die Deutschen und die deutsche Wehrmacht sowie alle, die in ihr gekämpft hatten. Ich will die Fälle von Misshandlung, die es damals gab, nicht verteidigen, aber man sollte bedenken, dass die Russen viel gelitten haben. Aber in den Jahren, in denen ich dort war, waren die Wachposten sehr anständig. Man muss schließlich verstehen, dass auch sie unter sehr schweren Bedingungen lebten. Sie befanden sich auch nicht gerade im Paradies, sie hatten keinen Grund, uns zu piesacken, sie fühlten sich eher als unsere Brüder im Unglück.
– Sind Sie jetzt auch aufrichtig?
– Was ich sage, ist die Wahrheit, ich brauche nicht zu lügen. Wir hatten das Glück, in unserem Lager einen anständigen Kommandanten zu haben. Ich erinnere mich noch daran, dass wir immer sagten, bei einem plötzlichen Umschwung der politischen Verhältnisse, der uns an die Macht brächte, würden wir uns nicht an ihm rächen. Wir würden ihm nichts tun. Er war ein guter Mensch, verstehen Sie? Ein guter Mensch!
– Und im übrigen?
– Unser Problem waren weder die Wachen noch die Lagerleitung. Problematisch war vielmehr, dass politische und kriminelle Gefangene oft zusammengelegt wurden. Und die Kriminellen – von denen möchte ich gar nicht erst reden. Wir verabscheuten sie. Aber wir waren gezwungen, mit ihnen zu arbeiten und zu leben. Das war das Schlimmste für uns.
– Und sonst?
– Es ging. Wir überlebten. Wir kehrten zurück.
– Was können Sie mir sonst noch erzählen?
– Ich weiß nicht, sagt er. Es liegt nicht daran, dass ich nichts erzählen will. Oder dass ich Angst habe, etwas zu sagen. Aber was geschehen ist, ist allmählich weggeglitten. Workuta, die Lager, die Gruben, die Essenssäle, die Baracken, der Stacheldraht, die Appelle, die Schufterei, die Kälte. Es ist wie ein Traum, es ist alles so unwirklich, als hätte nicht ich das alles erlebt. Es tut auch nicht mehr weh, wenn ich an diese Zeit denke. Ich fühle nichts. Mir ist, als sähe ich durch Nebel, als träumte ich, als erlebte ich einen Alptraum, der immer weiter von mir fortgleitet.
Er wurde 1955 freigelassen. Einige Jahre später kehrte er nach Riga zurück.
Woran erinnert er sich? Eines Tages sah er einen Gruß aus einem Land, das er nicht vergessen hatte: aus Schweden. Es war Butter aus Schweden. Er sah es auf dem Etikett, es war schwedische Butter. Er sah das Etikett an und aß dann die Butter auf. Er sagt, dass er dabei nicht besonders an Schweden gedacht habe. Die Butter war gut. Er aß sie auf.
Sie lebten mit den Deutschen, sollten aber länger dableiben als sie. Eines Tages kamen Gerüchte auf, Adenauer sei in Moskau gewesen und solle bei seinem Besuch die Freilassung deutscher Kriegsgefangener ausgehandelt haben. Bald darauf wurden die Deutschen tatsächlich freigelassen, aber die Balten blieben da. Sie waren empört und protestierten heftig, aber das half nichts.
Der Legionär und Offizier P., der auch Arbeitslager-Erfahrung besitzt, spricht lange darüber. Er ist mager, hat glänzende, aber wehmütige Augen, bewegt sich mit raschen Bewegungen, hat einen Zahn aus rostfreiem Stahl, lächelt oft.
Er wohnt ganz allein in Riga.
Seine Familie wohnt in Australien. Ehefrau, zwei Kinder. Er hat seine Söhne als kleine Jungen gesehen, seitdem nie wieder. Er selbst bekommt keine Ausreisegenehmigung, und sie wollen ihn nicht besuchen.
Er wohnt ganz allein in Riga.
– Ich schreibe an meine Familie, sagt er. Ich schreibe oft, und sie antworten mir. Es geht ihnen sicher gut in Australien. Einer der Jungen hat im Frühjahr geheiratet. Ich kann ja nicht hinfahren, aber ich frage in jedem Brief, wann sie wohl herkommen werden. Kommt ihr mich bald einmal besuchen? schreibe ich. Aber darauf antworten sie nie. Sie antworten auf alles andere, aber nie darauf. Ich schreibe und frage und frage, aber sie sagen nie, wann sie endlich einmal kommen werden. Können Sie
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