Die Ausgelieferten
sinnlose Frage, weil es zu einem solchen Verfahren nie gekommen ist.
Entsprechen alle diese Archivangaben der Wahrheit? Das lässt sich unmöglich feststellen. Sie sind aber trotzdem sehr interessant, weil sie – ganz abgesehen von der Frage, ob sie wahr oder gefälscht sind – ein gutes Bild von den Beschuldigungen geben, die im Jahre 1947 gegen eine Gruppe der von Schweden ausgelieferten Legionäre erhoben wurden. Anklagen dieser Art sind ganz offensichtlich gegen sie erhoben worden. Die Urteilsbegründungen sahen fast genauso aus.
Ob die Anklagepunkte zutreffend waren oder nicht, kann heute kein Außenstehender mehr beurteilen.
Aber die Angaben über Lapa? Hatte er wirklich zwei Jahre lang in dem Kommando unter Viktor Arajs gedient? Er wurde ja nie vor Gericht gestellt, er konnte sich nie verteidigen und kann es auch heute nicht mehr. Er nahm sich in Schweden das Leben, unter dem Druck einer Situation, die ihm absolut hoffnungslos erschien. An seinem letzten Abend behauptete er noch, er sei sicher, dass die Russen ihn erschießen würden. Kann es damit nicht sein Bewenden haben? Soll man die Toten nicht ruhen lassen? Bedeutet dies nicht, über Tote zu Gericht zu sitzen?
Und von allen Fragen, die diese Auslieferung betrafen, schien diese am schwersten beantwortet werden zu können: wie sollte der Untersucher sich zu allem stellen, was er gesehen und gehört hatte? Ihm kamen die unablässigen Warnungen aus Schweden in den Sinn: »Sie werden dich anlügen. Sie werden dich daran hindern, die Wahrheit zu erfahren. Sie werden dich mit Lügen vollstopfen. Glaube ihnen nicht. Glaube ihnen nicht.« Jetzt saß er hier inmitten eines ständig wachsenden Haufens von Dokumenten, Informationen, Fotografien und Notizen, er hatte keine Möglichkeit, den Wahrheitsgehalt selbst zu kontrollieren, weil er nicht Lettisch sprach. Sollte er das alles publizieren? War er im Begriff, düpiert, hinters Licht geführt zu werden? Wenn sie ihm Lügen aufgetischt hatten, musste er zugeben, dass sie äußerst geschickt gelogen hatten, weil etliche kleine Detailangaben genau stimmten. Sie hatten ihm gesagt, dass Vabulis unschuldig gewesen sei, aber dass Lapa sicher verurteilt worden wäre, wenn Schweden ihn ausgeliefert hätte – warum hatten sie nicht in beiden Fällen gelogen? Warum hätten sie ausgerechnet im Fall Lapas lügen sollen, über den schon in Schweden so viele Gerüchte im Umlauf waren, dem vieles unterstellt wurde, warum gerade bei Lapa, der vielleicht – an seinem letzten Abend – schon selbst vieles angedeutet hatte, als er sich zum letztenmal mit einem Schweden unterhielt?
Nein, dies war keine Gerichtsverhandlung über Tote. Die Toten erhoben sich und sprachen selbst: Per Albin Hansson und Oscars Lapa, Peteris Vabulis und Ernests Kessels, Christian Günther und Karlis Gailitis. Nachdem die Geschichte einmal zum Leben erweckt worden war, standen alle auf und begannen zu sprechen, sie waren Ankläger und Angeklagte, die Dokumente sprachen und die Briefe auch, die Geschichte sprach, sie schien über sich selbst zu Gericht zu sitzen. Alle sprachen sie mit wütender und gekränkter Stimme, und ihr Zorn sollte nie aufhören, weil diese Auslieferung ihretwegen nie aufhören sollte zu leben. Informationen, Dokumente, Archive, Anklagen – sollte er hinters Licht geführt worden sein, würde die Geschichte ihn korrigieren. Bis auf weiteres konnte er sich darauf beschränken, die Mosaiksteinchen vorzulegen, die er gefunden zu haben meinte, auch wenn es schwerfiel, sie in das Gesamtbild einzufügen.
War es möglich, aus Urteilsbegründungen und Protokollen noch etwas anderes herauszulesen? Unter anderem dies: die Urteile erschienen bei einigen Angeklagten absurd hart, gemessen an dem, wessen sie angeklagt waren. Wenn die Anklage sich auf eine kurze Zugehörigkeit zu einer Polizeikompanie gründete, betrug die Strafe fünfzehn Jahre. Gegen einige andere wurden weit schwerwiegendere Anklagen erhoben, aber die Strafe fiel deswegen nicht viel härter aus. Die Strafen für leichtere und schwere Vergehen scheinen merkwürdig ähnlich zu sein.
Andererseits – äußerst wenige der verurteilten »schwedischen« Legionäre haben offenbar ihre Strafe voll verbüßt. Zwischen 1952 und 1957 sind wohl die meisten freigelassen worden, also nach fünf bis zehn Jahren Arbeitslager. Sie kehrten, einer nach dem anderen, nach Lettland zurück.
Gib nicht auf. Mach weiter. Lapa: im Juni 1941 wurden – bestimmten Quellen zufolge – seine Eltern
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