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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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ureigenes Gebiet vorgewagt hatten, auf sein Territorium, das eines Beobachters. Es war ein breiter, rücksichtsloser, schwarzer, vitaler, lebendiger Strom von Menschen, der sich auf seinen Grund und Boden vorgewagt hatte. Die Menschen gingen jetzt in Zwanzigerreihen, sie quollen über Bürgersteige, Nebenstraßen, überallhin, eine Sintflut in der weißen, sauberen Stadt Jackson.
    Schließlich blieb er stehen. Das lag nicht an der Hitze oder an seiner Erschöpfung, auch nicht an seinem Durst, denn unterwegs waren von hilfreichen Händen immer wieder Lebensmittel und Wasser angeboten worden. Es lag nur daran, dass er schließlich den vorbeiflutenden Strom verlassen hatte. Das Gefühl von gestern war weg, für immer, wie es schien, und er registrierte das mit einer Mischung aus trockener Verzweiflung und deutlicher Erleichterung. Gleichmütig und langsam ging er auf das Ziel des Marsches zu, das Capitol von Jackson. Auf den weiten Rasenflächen, zwischen den Bäumen, waren zuvor Gerüste für die Fernsehkameras errichtet worden. Er setzte sich auf den Rasen, am Rande des weiten Geländes, und sah zu. Dicht neben ihm stand eine Gruppe weißer Meckerer, sie schrien und brüllten, als der Demonstrationszug ankam; bald hörte er sie nicht mehr, obwohl er ihr Gebrüll noch wahrnahm. Überall standen Militärpolizisten. Es mussten an die tausend Mann sein. Sie trugen Gewehre und hatten Helme auf dem Kopf. Sie umstellten den ganzen Platz; von Mann zu Mann war nur ein Abstand von etwa einem Meter. Es war behauptet worden, dass sie nur zum Schutz der Demonstrationsteilnehmer hierherbeordert worden waren; ihre Bajonette richteten sich aber nach innen, auf die Mitte des weiten Runds. Sie machten einen ruhigen Eindruck, aber schließlich waren sie auch sehr zahlreich und überdies bewaffnet. Unter den vielleicht sechzigtausend Demonstranten hatte sich ein fürchterlicher Zorn aufgestaut, und wäre auch nur ein einziges Gewehr abgefeuert worden, hätte es eine Explosion gegeben: es wäre nur zu verständlich gewesen.
    Es geschah aber nichts.
    Er versuchte darüber nachzudenken, welches Gefühl nunmehr in ihm erloschen war, aber er konnte sich nicht darüber Klarheit verschaffen. Es musste endgültig dort unten, unter der glühenden Sonne geschehen sein, als er still dagestanden hatte und sich zum erstenmal darüber klar geworden war, dass er die ganze Zeit nichts weiter getan hatte als stillzustehen und zuzusehen. Er hatte es innerlich schon immer gewusst: seine Moralität war eine Sache der Empfindungen, er hatte immer den Weg des geringsten Widerstands gewählt, die Geste statt der Handlung, das Gefühl statt der Tatsachen. Während seines ganzen erwachsenen politischen Lebens hatte er davon geträumt, Anteil zu nehmen, wie selbstverständlich und bedeutungsvoll zu agieren. Während seines ganzen erwachsenen politischen Lebens hatte er in den Gesten Zuflucht gesucht, die ihm als Alibi dienen konnten, die ihn beruhigen und ihm das Gefühl geben konnten, frei zu sein.
    Dies war eine ausgezeichnete Demonstration. Sie würde ihm für mindestens zwei Jahre Ruhe verschaffen.
    Unterdessen hielten sie Reden. Er blieb die ganze Zeit sitzen, ohne sich zu rühren, sah, wie das Treffen zu Ende ging, wie die Menge sich auflöste, wie die weite Fläche von Menschen entblößt wurde, wie die Soldaten zusammengerufen wurden und verschwanden. Die Fernsehleute verließen das Gelände als letzte. Die Kameras wurden abmontiert und in die Ü-Wagen gebracht, und auch die Gerüste wurden abgebaut. Die Kabel wurden zusammengerollt, die Mikrophone abgebaut. Eine interessante Geschichte, dieses Fernsehen, dachte er. Wie belegen sie ihr Material, wie werden die Demonstrationen kommentiert, welche Argumente werden vorgebracht? Wie entsteht überhaupt eine Demonstration? Wie wird sie organisiert? Wie wird die Verpflegung der Teilnehmer geregelt? Wie ist der Mechanismus beschaffen, der hinter einer politischen Handlung steht?
    Man müsste zugleich im Fruchtwasser ruhen und den Mechanismus durchschauen können, überlegte er. Man müsste teilnehmen und zugleich die Tatsachen durchschauen können; seine Unwissenheit mindern, aber nicht die Anteilnahme.
    Es war bereits Abend geworden, er sah die Sonne nicht mehr; bald würde es völlig dunkel sein. Er ging durch die Straßen, sie waren fast leer, die Menschen waren wie durch Zauberei verschwunden. Überall sah er kleine Plakate: »Macht Jackson zu einer sauberen Stadt«. An jeder Straßenecke standen

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