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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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sich in den Hauptstrom ergossen. Auch von den Bürgersteigen und aus den Häusern kam immer mehr Zulauf. Schließlich gingen sie in Zehnerreihen, eng aneinandergepresst, ein immer unerbittlicher vorwärtsdrängender Strom, als sei der Druck von hinten so groß, die Hemmnisse so gering, dass ein Anhalten undenkbar sei. Ein Fluss, ein Wasser. Er drängte immer weiter nach vorn, an die Spitze des Zuges, ging neben ihm her, reihte sich wieder ein, als suche er unruhig nach einer Position, die ihm zukam, nach einer Stelle, an der er gehen konnte und durfte. Er spürte, wie die Stimmung im Zug wuchs und anschwoll, wie die Zahl der Agitatoren zunahm, wie die Rufe lauter wurden, die Wortwechsel heftiger und lauter, wie die Rufe nach Black Power zunahmen, das Schaukeln und Wiegen in der Masse, wie sie wuchs, allmählich dominierte und die Weißen auf den Bürgersteigen an Zahl laufend abnahmen und schließlich ganz verschwanden. Da hörten plötzlich auch die Wortwechsel auf, die Menge beruhigte sich, aller Widerstand schien beiseitegeschoben zu werden.
    Ich kann mich ganz sicher fühlen, dachte er. Heute ist alles ruhig. Heute haben die anderen keine Chance.
    Sie sangen. Er hatte dies alles schon früher gehört, im eigenen Wohnzimmer auf Schallplatten oder aber im Fernsehen, aber so wie jetzt hatten die Lieder nie geklungen. Der Gesang war nicht so gläubig und rein, wie er ihn sich vorgestellt hatte, sondern abgehackt und aggressiv, ständig von den Rufen nach »Black Power! Black Power!« unterbrochen. Er hatte sich den Gesang als hymnisch vorgestellt, hatte gemeint, die Menschen würden mit Tränen in den Augen durch die Straßen ziehen und ihre Hymne an die Freiheit singen, aber so war es nicht. Der Gesang klang nicht rein und gläubig, sondern aggressiv, enttäuscht, höhnisch, verzweifelt.
    – Kommt mit! schrien sie den Zuschauern auf den Bürgersteigen zu, kommt doch mit, verflucht nochmal, ihr braucht wirklich keine Angst zu haben! Macht bloß mit, ihr verdammten feigen Schweine, deswegen verliert ihr eure Jobs noch lange nicht! Und sie kamen, immer mehr und mehr, Tausende und Abertausende, das Letzte, was er von dem hohen Lastwagen mit den Fernsehkameras und den Presseleuten sah, war, dass er auf einer Kreuzung eingekeilt war und weder vorwärts noch rückwärts fahren konnte. Hundert Meter weiter vorn kreuzte die Marschroute einen Schienenstrang, und als die Spitze des Zuges sich etwa hundert Meter jenseits des Bahnübergangs befand, kam eine einsame Lok angefahren. Alle blieben plötzlich stehen, als glaubten sie, die Lok würde sie einfach überfahren, als sehnten sie sich nach einem Konflikt, weil bislang alles zu ruhig abgelaufen war. Dreißig Sekunden später war die Lok mit einer wimmelnden, krabbelnden Menschenmenge bedeckt, die sich plötzlich auf einen potentiellen Feind gestürzt zu haben schien, obwohl die Lok rechtzeitig angehalten hatte und keine Gefahr mehr bedeutete. Die Menschen waren Ameisen; er stand still da und sah, wie der Konflikt entstand und sich zuspitzte, sich entspannte und in nichts auflöste, er sah mit interessierter Verblüffung zu: welche Mechanismen liegen einem Konflikt zugrunde? Wo beginnt er? Es dauerte insgesamt fünf Minuten, dann war die Lok wieder von Menschen entlaust, und der Marsch konnte weitergehen.
    Und sie gingen weiter. Als sie in der Stadtmitte ankamen, hatte der Zug bereits so viele Teilnehmer, dass überschlägige Schätzungen zwecklos geworden waren. Es mochten vierzigtausend oder auch hundertfünfzigtausend Menschen sein. Er hatte dergleichen noch nie gesehen, es, war wie ein Traum, ein Traum von Freiheit, Anteilnahme, von Macht und Gerechtigkeit. Wie ein schwellender, fiebriger Traum: er lief und lief, und der Schweiß rann ihm in Bächen übers Gesicht, die Sonne stand fast im Zenit über ihnen, wie viele sind wir? dachte er immer wieder, wie viele sind wir?
    Was mache ich hier?
    Es konnte plötzlich geschehen, dass er sich auf dem Bürgersteig wiederfand, während der Zug an ihm vorbeimarschierte. Plötzlich nahm er nicht mehr an der Demonstration teil, sondern stand als Beobachter daneben. Er ertappte sich dabei, dass er nebenherlief, als wäre er ein Journalist oder ein Reporter oder nur ein Mann vom Rundfunk. Die Straßen reichten nicht aus, um die Menschenmassen aufzunehmen, die Menschen mussten auf die Bürgersteige ausweichen, und als der Demonstrationszug die Bürgersteige eroberte, empfand er die Demonstranten als Eindringlinge, die sich auf sein

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