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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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für ihn und weinte nicht über ihn und gab kein Zeichen, sondern glitt einfach vorbei, wie im Nebel, wie im Traum. Als er aufwachte, war es Mitternacht und dunkel. Lange lag er wach und versuchte, das Gefühl vom gestrigen Abend zurückzurufen. Es ist immer so, dachte er: eine ständige Jagd nach kurzen Sekunden oder Stunden oder Gefühlen, ein hysterisches Festhaltenwollen. Es ging nicht. Er stellte den Fernseher an: Werbung für ein Spülmittel, danach ein Film über eine Invasion von Vampiren. Die Augen schmerzten, aber er konnte nicht einschlafen. Er wusste, dass er einer bedeutsamen Einsicht sehr nahe war. Er würde sie erlangen, wenn er sich nicht darauf versteifte. Morgen war der letzte Tag des Marsches. Vielleicht würde die Einsicht sich ihm morgen öffnen. In Erwartung der Aufrichtigkeit und der sachlichen Hingabe, die mit allem versöhnen würden, löschte er das Licht im Zimmer, stellte den Ton des Fernsehgeräts ab, blickte starr auf die weiße, flimmernde Scheibe und schlief endlich ein.
    Jede Untersuchung hat einen Ausgangspunkt. Dies ist ein Versuch, einen der Ausgangspunkte zu beschreiben: dieser Punkt ist ein Gefühl oder der Drehpunkt eines Gefühls. Hier, genau hier, ist das Gefühl. Der Drehpunkt ist direkt daneben.
    Um zehn Uhr morgens wusste er immer noch nicht, wo sich der Demonstrationszug befand. Er sollte irgendwo am Stadtrand von Jackson sein, aber die Straßen der nördlichen Vorstädte waren zahlreich und krumm; die Spitze des Zuges musste irgendwo einen anderen Weg eingeschlagen haben, von allen, die er fragte, wusste keiner Bescheid. Er entdeckte eine Gruppe, die auf dem Weg in die Vororte zu sein schien. Die Männer standen vor einem Busbahnhof am Rande der Ebene; hinter ihnen erhob sich ein riesiges Krankenhaus. Nichts geschah. Dann und wann flog ein Hubschrauber über sie hinweg: die großen Fernsehgesellschaften deckten das Geschehen von oben; er selbst deckte es von der Flanke. Er versuchte, den Standort des Demonstrationszuges zu ermitteln, indem er Kurs und Kursabweichungen der Hubschrauber beobachtete, aber es gelang ihm nicht. Er wartete, eine Stunde verging, die Luft hatte 102 Grad Fahrenheit. Dann kamen drei Automobile und hielten an. Eins von ihnen war ein Bus aus den zwanziger Jahren, grau bemalt und kurz vorm Zusammenbrechen. An der Seite trug er ein aufgemaltes rotes Kreuz. Er schien aus dem spanischen Bürgerkrieg zu stammen. Er ging hin und fragte. Der Krankenwagen gehörte zum Zug, er sollte wieder zur Haupttruppe zurück. Er durfte mitfahren.
    Er setzte sich hinter den Fahrer, er schwitzte jetzt heftig. Das exakte Maßstabverhältnis zwischen Celsius und Fahrenheit war ihm unbekannt, aber es war sehr warm. Nach einer Weile kam ein Medizinstudent aus Washington nach vorn und setzte sich neben ihn. Keine schönen Dinge, die er zu erzählen hatte, aber er brachte sie in einem sehr sachlichen Ton vor, was seinen Bericht fast trivial klingen ließ. Dann fuhren sie – nein, vielleicht nicht trivial, aber unsentimental –, dann fuhren sie los. Der Fahrer war ein junger Schwarzer von etwa zwanzig Jahren. Er fuhr schnell und impulsiv, aber man merkte ihm an, dass er nicht zum erstenmal hinter einem Lenkrad saß. Hinaus in die Vorstädte, niedrige Häuser und mehr Menschen, und vor allem mehr Polizisten, mehr weiße Polizisten. Die Abstände zwischen den einzelnen Polizeiposten wurden immer kürzer, sie kamen an eine Straßenecke und wurden angehalten. Jetzt befanden sie sich auf der richtigen Marschroute, das war nicht zu verkennen, obwohl der Demonstrationszug hier noch nicht eingetroffen war. Der Polizist, der sie angehalten hatte, stand mitten auf der Fahrbahn. Abgesperrt! schrie er, haut ab! Kehrt um und verschwindet! Während einiger Sekunden verwirrt, steckte der Fahrer den Kopf durchs Seitenfenster und versuchte zu erklären, er habe die Erlaubnis, dem Zug zu folgen, aber der Polizist sagte kurz angebunden, aber unmissverständlich, er pfeife auf die Genehmigung, und sei sie vom Weihnachtsmann persönlich erteilt. Es hieß also wenden, und das schnell. Um den Bus herum hatten sich inzwischen mehrere hundert Menschen versammelt, die meisten waren Weiße. Sie lauschten dem Disput, als wäre er ein Hahnenkampf vor zahlenden Gästen. Als die glänzende Anspielung auf den Weihnachtsmann in die Debatte geworfen wurde, brach die Menge in Gelächter und Beifall aus. Hier würden sie vermutlich lange festsitzen, wenn es ihnen nicht gelang zu wenden.
    Der Polizist blickte

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