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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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ruhig lächelnd in die Runde. Er war unter Freunden.
    Es ist denkbar, dass der Krankenwagen einmal, vielleicht irgendwann in den zwanziger Jahren, einen tadellos funktionierenden Rückwärtsgang gehabt hatte, aber diese Zeit war vorbei. Das Getriebe quietschte und schrie, dann schien der Fahrer plötzlich den richtigen Gang erwischt zu haben. Er nahm den Fuß vorsichtig vom Kupplungspedal, worauf der Bus einen kleinen Satz nach vorn machte, vielleicht einen halben Meter, und dann mit einem Ruck stehenblieb. Der Polizist handelte blitzschnell: er sprang auf die Kühlerhaube, zog seine Pistole, setzte sie gegen die Frontscheibe und schrie laut und deutlich:
    – Zurück, du verfluchter Affe! Zurück, habe ich gesagt!
    Der Lachorkan draußen schwoll weiter an. Und er da drinnen im Bus, er, der sich noch gestern wie in einem Fruchtwasser gefühlt und Anteil genommen hatte, befand sich wieder einmal auf der anderen Seite der dünnen Wand. Es schien etwas zu bedeuten, aber er wusste nicht genau, was. Er meinte, von allen angestarrt zu werden. Sie sahen ihn an, die Weißen da draußen, als wäre er ein Verräter an ihrer Rasse. Sie sahen, dass er der einzige Weiße im Bus war, und sie wussten, was das bedeutete, und er wusste, was sie dachten. Hätten sie gewusst, dass er Schwede war, wäre es noch schlimmer gewesen. Dann hätten sie sicher gewusst, dass er auf der anderen Seite der Wand stand. Er saß vollkommen unbeweglich da und sah auf einen halben Meter Entfernung, wie der Fahrer schwitzte; kleine Bäche liefen ihm in den Nacken. Vor dem Fahrer sah er die Pistole, aber vor der hatte er keine Angst, nur vor dem Lachen der Menschen draußen.
    Es muss noch eine andere Möglichkeit geben, dachte er, jetzt schwanke ich nur zwischen zwei Arten von Empfindsamkeit. Es muss noch eine andere Möglichkeit geben, eine sachlichere. Es muss sie geben.
    Gerade als der Fahrer sagte, alle müssten aussteigen und schieben, bekam er den Rückwärtsgang wieder herein. Er empfand eine rasche Erleichterung, die ihm fast die Tränen in die Augen trieb. Der Bus rollte rückwärts, sie lösten sich von der Menge. Sie kurvten in eine Seitenstraße hinein, sie waren wieder unterwegs.
    – Der Scheißkerl hat vielleicht schnell gezogen, sagte der Fahrer nachdenklich, wie zu sich selbst.
    Zwei Blocks weiter trafen sie auf den Demonstrationszug, etwa in der Mitte der langen Schlange. Was einmal hundertfünfzig, zweihundert Menschen gewesen waren, bestand jetzt aus fünftausend. Im Lauf der nächsten fünf Stunden sollten es annähernd vierzigtausend werden. Einige Augenblicke lang stand jetzt alles still, die Spitze des Zuges saß irgendwo fest. Dann bewegte sich der Zug wieder, ganz langsam.
    Zwölf Uhr war es jetzt geworden, die Sonne stand hoch am Himmel. Die Hitze drückte wie eine eiserne Hand auf die Stadt. Er ging mit ihnen. Als der Zug langsam wieder in Bewegung kam, Fuß um Fuß und Schritt um Schritt, empfand er das als eine enorme Erleichterung. Sie gingen in Fünferreihen. Vor der Spitze des Zuges fuhr ein Lastwagen; zunächst glaubte er, es sei die Demonstrationsleitung, die sich darin befand, aber es stellte sich heraus, dass es sich um den Wagen mit den Journalisten handelte. Fünf Kilometer hatten sie noch zu gehen, dann würde der Marsch zu Ende sein. Einen Monat hatte er gedauert. Angefangen hatte er mit den Schüssen auf Meredith, und jetzt sollte er enden. Dies war der letzte heroische Sommer der friedlichen Koexistenz, noch kamen Liberale aus dem Norden und Schriftsteller aus Europa, um ihre Solidarität zu bekunden. Dies war aber zugleich auch der erste Sommer der Black-Power-Bewegung. Hier und da im Demonstrationszug konnte man diese Gruppen sehen, kleine versprengte Trupps inmitten der Friedlichen und mild Gesinnten, kleine wütende Trupps, die ihr »Black Power!« hinausschrien, ohne sich um die Blicke der anderen zu kümmern. Er hatte bislang nur in schwedischen Zeitungen über sie gelesen und war also der Ansicht, sie seien gefährlich und wahnsinnig. Er versuchte, nicht in ihre Richtung zu sehen.
    Ich nehme an einem friedlichen Freiheitsmarsch teil, dachte er. An einem Marsch gegen die Furcht. Diese Verrückten da sollte man nicht mitmarschieren lassen. Immer wieder strich er sich über die Stirn.
    Und dann gingen sie weiter. Es war wie ein Traum, fand er, eine flimmernde Halluzination. Er fühlte eher als dass er sah, wie der Zug immer weiter anschwoll und anschwoll und aus den Seitenstraßen kleine Menschenrinnsale

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