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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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ja schon 1941 hergekommen; die meisten saßen hier, weil sie während der Besetzung mit den Deutschen zusammengearbeitet hatten. Einige waren Kriegsverbrecher, andere unbeugsame Nationalisten, einige wurden festgehalten, weil sie Sozialdemokraten waren und keine Lust hatten, ihrer politischen Überzeugung abzuschwören. Die Balten schlossen sich fast immer zu einer Gemeinschaft zusammen und sonderten sich von den anderen ab. »Sie stellten ja die intellektuelle Creme des Lagers dar. Das wussten sie auch sehr gut und schienen es manchmal auszunutzen. Wir anderen hatten immer das Gefühl, dass es schwer sei, an sie heranzukommen.« So wuchsen die Konflikte innerhalb des Lagers und differenzierten sich nach Rassen oder Nationalitäten, nach Ausbildung und Intelligenz. Das Misstrauen war groß und allseitig. Misshandlungen und Brutalitäten seitens der Wachsoldaten gab es offenbar in den Jahren 1948 bis 1953 nicht. Die Wächter waren öfter traurig als brutal, man lebte schließlich in Norilsk, Sibirien. Ob Wachposten oder Lagerinsasse – worin bestand hier in der Nähe des Eismeers der Unterschied? Sie arbeiteten, bauten eine Stadt auf, hier wuchs ein riesiges Atomkraftwerk heran. Hier entstand das, was einmal zu einem der wichtigsten Industriezentren des nordwestlichen Sibirien werden sollte, eine große Stadt: aber die Unterschiede zwischen Wächtern und Häftlingen vermischten sich immer mehr, die Tage nagten an den künstlichen Grenzen. Schließlich lebten alle einigermaßen einträchtig nebeneinander, während die Tage vergingen.
    In den letzten Jahren vereinsamte Elmars Eichfuss-Atvars immer mehr. Die eigentümliche, rätselhafte Ausstrahlung, die ihm einst eine Machtposition verschafft hatte, schien ihn jetzt nur noch zu isolieren und zu einem Kuriosum zu machen. Er sonderte sich immer mehr von den anderen Balten ab, und sie hielten sich von ihm fern. Die Handvoll Vertrauter und Freunde, die er gleich nach seiner Ankunft im Lager um sich geschart hatte, zog sich im Lauf der Jahre immer mehr von ihm zurück. Jetzt sprach kaum einer mehr mit ihm, er hatte keinen Freund mehr und kaum noch einen Feind. Seine Exzentrizität wurde immer ausgeprägter. Er begann seinen Kopf kahlzurasieren, behielt aber seinen hellen Bart. So lief er im Lager herum – mit seinem rötlichen Bart, seinem kahlen Kopf und seinem rätselhaften Schweigen. Er trug keine Kopfbedeckung, Tag um Tag, wie kalt es draußen auch sein mochte. Er sah aus wie ein tibetanischer Mönch. Zu diesem Zeitpunkt wusste jeder in Norilsk, wer Eichfuss war: der Mann mit dem Bart, der mit kahlrasiertem Schädel umherlief und behauptete, Arzt zu sein, der Mann, der oft lächelte, aber nie mit einem anderen sprach. Wenn er beim Appell angetreten war, konnte man ihn leicht erkennen. Er hob sich von der grauen Masse ab. Wenn er den anderen über den Weg lief, grüßten sie ihn mit Zurufen. »Da bist du ja, du komischer Heiliger«, sagten sie. »Hast du heute auch schön brav gebetet?« fragten sie. Man nannte ihn den »Mönch«. Sie hielten ihn für hochmütig oder verrückt, und das sagten sie ihm auch. Untereinander sprachen sie darüber, dass dieses Herumlaufen mit kahlem Schädel unmöglich gesund sein könne. Schließlich lächelte jeder, wenn sein Name erwähnt wurde, mit einer Mischung aus Hohn und Mitgefühl. Elmars Eichfuss-Atvars war ein bekannter Name in Norilsk.
    1953 verliert sich seine Spur von neuem. Man weiß, dass er in diesem Jahr noch im Lager von Norilsk lebte und nach wie vor seinen Dienst als Sanitäter versah. Der Ungar, der bislang über sein Leben berichten konnte, verlässt das Lager in diesem Jahr. Zwei Jahre später begegnet derselbe Ungar einem Freund aus Norilsk; sie kommen auf Eichfuss zu sprechen. Der Freund sagt, er glaube, dass Eichfuss inzwischen gestorben sei.
    Er soll eines natürlichen Todes gestorben sein; vermutlich wegen seiner Gewohnheit, ständig mit kahlrasiertem Kopf und ohne Kopfbedeckung herumzulaufen, was seinem Schädel sehr geschadet haben müsse. Er soll Anfang 1955 gestorben und auf dem lagerinternen Friedhof in Norilsk beerdigt worden sein. Die Geschichte des Elmars Eichfuss-Atvars ist damit – so scheint es – zu Ende.
    Es gibt viele Fragezeichen. Ist er in Norilsk gestorben? In diesem Lager gab es im März 1953 einen Aufruhr, der bis zum August desselben Jahres andauerte. Dies geschah nach dem Tod Stalins; die Insassen wünschten Garantien dafür, dass die Verhältnisse im Lager verbessert würden, und überdies

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