Die Ausgelieferten
übersättigt fühlten. »Man kann aber sagen, dass es uns besser ging als der Zivilbevölkerung der Sowjetunion – jedenfalls in diesen ersten Nachkriegsjahren. Ich bin in vielen Lagern gewesen, ich weiß Bescheid. Die Zivilbevölkerung hungerte, verhungerte sogar in diesen Jahren. Wir in den Arbeitslagern konnten aber sicher sein, unsere tägliche Ration zu bekommen. Die da draußen jedoch hatten es schwer. Die Deutschen hatten ja alles verbrannt und verwüstet.« In Norilsk saßen nicht nur politische Gefangene, die Mehrheit waren normale Kriminelle. In Norilsk waren dreißig Prozent der Insassen Politische und siebzig Prozent Kriminelle. Die Kriminellen hatten die Lager fest in der Hand, sie hatten ihre eigene Hierarchie und schufen sich eigene Gesetze.
Eine lustige Lagergeschichte: Beispiel. Der Koch jeder Arbeitsgruppe bekam einmal am Tag seine Rationen ausgehändigt. Unter den Lebensmitteln waren auch einige Kilogramm Butter, die der Suppe zugesetzt werden sollten. Speisefett war sehr begehrt, und einige der Kriminellen unter den Insassen befahlen dem Koch täglich, ihnen die Hälfte der Butterration auszuhändigen. Die Butter diente als Zahlungsmittel, Schmiergeld, Tauschobjekt oder einfach als Nahrung. Der Koch gehorchte. Eines Tages wurde er gegen einen anderen ausgetauscht. Der neue Koch weigerte sich, sich erpressen zu lassen, und setzte die Butter statt dessen der Suppe zu. In der Küche standen zwei riesige Eisentöpfe mit großen, verschließbaren Deckeln, die jeden Abend abgeschlossen wurden, weil es häufig zu Diebstählen gekommen war. Am Tag nach der Einsetzung des neuen Kochs, der sich geweigert hatte, dem Druck der Kriminellen nachzugeben, kamen drei Mann zu ihm in die Küche. In einem der Töpfe stand das kochende, brodelnde Wasser einen halben Meter hoch. Die drei Männer packten den Koch und warfen ihn in den Topf. Anschließend legten sie den Deckel auf den Topf und verschlossen das Vorhängeschloss. Die Gasflammen unter dem Topf brannten, die Hähne waren voll aufgedreht. Man hörte ein heftiges, wildes Klopfen, das jedoch bald aufhörte. Der Koch starb, es wurde ein neuer eingesetzt, der sich nicht weigerte, die Butter herauszugeben. Alle Arbeitslager kämpften mit der Schwierigkeit, die Kriminellen und ihre rasch etablierten Organisationen innerhalb der Lager unter Kontrolle zu halten. Die Geschichte von dem standhaften Koch machte in allen Lagern die Runde und wurde als lustig und ungewöhnlich bezeichnet. Sie wird hier nur wiedergegeben, um der Darstellung auch ein unterhaltendes Moment hinzuzufügen.
Elmars Eichfuss-Atvars kam im Februar 1948 nach Norilsk, und er sollte viele Jahre dort bleiben.
In den ersten Jahren hob er sich nicht sonderlich von der Menge ab. Beim Morgenappell stand er wie die anderen in Reih und Glied, er wurde kontrolliert und mitgezählt, marschierte zu seinem Arbeitsplatz wie die anderen auch: er war einer von ihnen, auch wenn seine Tätigkeit etwas anderer Natur war als die der übrigen Lagerinsassen. Nach einer gewissen Zeit wurde er nämlich als Sanitäter beschäftigt. Er folgte den Arbeitskolonnen zum Arbeitsplatz und hielt sich dort in Bereitschaft, falls es zu kleineren Unglücksfällen kommen sollte. Dann legte er einen ersten Verband an, stellte eine vorläufige Diagnose, leistete Erste Hilfe in jeder Form, bis der Patient ins Lagerlazarett geschickt werden konnte, falls sich das als notwendig herausstellte. Als Arzt im Lagerlazarett wurde er dagegen nicht beschäftigt. Von seinen Mithäftlingen wurde er auch nicht als Arzt angesehen. Wäre er tatsächlich Arzt gewesen, hätte man ihn sofort im Lazarett untergebracht, denn in den Lagern herrschte schwerer Mangel an Ärzten. Elmars Eichfuss-Atvars nahm man nicht. Er blieb Sanitäter und stand jeden Morgen wieder auf dem Appellplatz. Er verließ das Lager durch das Tor und kam abends mit den anderen wieder, er fror oder schwitzte nie, weil er nicht wie die anderen Schwerarbeit leisten musste. Er ging zurück ins Lager, wurde kontrolliert, schlief, schlief. So vergingen die Jahre.
In den Lagern waren viele Nationen vertreten, und die Balten hielten sich am liebsten von den anderen fern. Sie wurden von den Mithäftlingen oft als »hochnäsig« bezeichnet, weil es allgemein üblich war, Angehörige anderer Nationen mit einer verallgemeinernden Bezeichnung zu belegen. Vielleicht hatten sie tatsächlich eine Mauer aus Distanz und Hochmut um sich errichtet und sich von den anderen abgesondert. Einige waren
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