Die Ausgelieferten
Schicksal? Wann ist er gestorben? Und wo?
– In den Akten steht, dass er 1954 freigelassen wurde, das ist alles. Dann findet sich noch eine kleine Notiz aus dem Jahr 1965. Damals soll er sich als Homöopath durchgeschlagen haben; bei irgendeiner Gelegenheit hat er sich auch mit irgend jemandem geprügelt. Aus dem Jahr 1965 stammt jedenfalls auch die Notiz, dass er wegen leichter Körperverletzung zu zehn Tagen Haft verurteilt worden ist.
– Demnach hat er 1965 also noch gelebt?
– Offensichtlich. So steht es jedenfalls in den Papieren. Das ist die letzte Eintragung über ihn.
– Wo hat er damals gewohnt?
– In Tukums, einer kleinen Stadt fünfzig bis sechzig Kilometer südlich von Riga.
Die Nachricht war leicht prüfbar: es gibt in Lettland Adressbüros, die für derlei zuständig sind. Wenn man den Namen, den Geburtstag und den Bezirk kennt, ist es leicht, eine gesuchte Person ausfindig zu machen, und Eichfuss lebte tatsächlich in Tukums, seine Adresse war verzeichnet. Er lebte also offenbar noch. Aber Tukums lag in einem für Ausländer gesperrten Bezirk. Lettland gilt als »Grenzrepublik«, und weite Teile des Landes sind für Ausländer zu Sperrbezirken erklärt worden, vor allem die westlichen Landesteile. Der Untersucher ersuchte also um die Genehmigung, nach Tukums reisen zu dürfen. Sein Gesuch wanderte in den bürokratischen Apparat, und er erhielt Bescheid, dass die Angelegenheit eine Woche in Anspruch nehmen würde. Aber dann würde es bereits zu spät sein.
Am nächsten Tag versuchte er, Eichfuss telefonisch zu erreichen: er bekam die Telefonnummer, und ein lettischer Bekannter rief für ihn an. Eine Frau nahm am anderen Ende der Leitung den Hörer ab und sagte, dass Eichfuss krank sei, dass er bereits seit Mai 1967 im Bett liege, er habe einen Herzfehler, und seine Beine seien halb gelähmt, er könne leider nicht nach Riga reisen. Sie fügte hinzu, dass es ihm sicher leid tun werde, den Schweden nicht getroffen zu haben.
Alles schien unmöglich zu sein. Eichfuss saß in Tukums und konnte nicht nach Riga, und der Schwede saß in Riga und bekam keine Erlaubnis, die sechzig Kilometer nach Tukums zu fahren. Er machte einen letzten, desperaten Versuch beim Innenministerium, es entspannen sich einige äußerst gereizte Gespräche, aber die Angelegenheit ließ sich nicht beschleunigen.
Spät am Freitagabend kam dann ein Telegramm von Eichfuss. Es lautete: »Wer sucht mich? Ich kann nach Riga kommen. Bestimmen Sie Zeit und Ort eines Zusammentreffens. Dr. Elmars Eichfuss-Atvars.«
Es waren noch vierzehn Stunden, bis das Flugzeug des Schweden, Untersuchers und Schnüfflers starten sollte. Er schickte sofort ein Telegramm zurück. Sie sollten sich früh am nächsten Morgen treffen, Treffpunkt das Hotel. Eichfuss solle ein Taxi nehmen, er sei willkommen.
Was bedeutete dies alles? Lebte er? War er krank? Warum hatte er telegrafiert? Warum war es ihm so sehr darum zu tun, dem Schweden zu begegnen?
Dieser Tag war sein letzter Tag in Riga. Die Hitzewelle war noch nicht abgeflaut, die Sonne schien sehr heiß, obwohl es noch früh am Morgen war. Wenn es diesen Eichfuss also noch gab, würde er bald auftauchen.
Es gab ihn. Und dann erschien er schließlich, dieser merkwürdige Mann, der ihm immer entglitten war, den er durch so viele Dokumente und Aussagen hindurch gejagt hatte. Am 9. September um neun Uhr morgens. Er war immer noch am Leben, aber viel Leben steckte nicht mehr in ihm. Eine kleine zarte Frau von etwa fünfzig Jahren erschien in der Hotelhalle, rief den Schweden an und bat ihn, herunterzukommen. Als er auf die Straße trat, sah er sofort das Taxi. Es stand auf dem Platz vor dem »Hotel Riga«. Elmars Eichfuss-Atvars saß auf dem Rücksitz, der Wagenschlag war geöffnet, seine Füße hatte er aufs Straßenpflaster gesetzt, und in der Hand hielt er einen Stock. Er trug keinen Bart mehr, sein dünnes helles Haar war zurückgekämmt, er war sehr viel fetter geworden und hatte kaum noch Zähne, aber er war’s, daran bestand kein Zweifel. Um ihn und um den Wagen herum stand eine kleine Gruppe von Menschen, und plötzlich begriff der Schwede, dass eine kleine Delegation erschienen war und nicht ein Mann allein. Da stand die zartgebaute dunkle kleine Frau, die offenbar nur russisch sprechen konnte und die ihn aus dem Hotel geholt hatte, es war Eichfuss’ Ehefrau. Daneben sah er eine etwas ältere Frau stehen, entweder eine Nachbarin oder eine Schwägerin des Doktors. Sie starrte den Schweden
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