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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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nicht hatten leiden müssen und auch nicht gestorben waren, so verringerte sich damit auch ihre Anwendbarkeit im politischen Leben. Und das war nicht gut, überhaupt nicht gut. Ihren Tod hat wohl kaum jemand gewünscht, aber man hatte sie sich jahrelang als tot vorgestellt, und daraus hatte sich eine Tragödie entwickelt, die im Lauf der Jahre die Schwelle des Sublimen erreichte. Die Schuld war größer und größer geworden, das Verbrechen schlimmer und schlimmer – es war alles so entsetzlich deutlich geworden. Sie hatten so lange in der Form dieser deutlichen, sublimen Tragödie an die 146 Balten gedacht, dass jeder Versuch, die Tragödie zu verringern oder sie auf den Boden der Tatsachen zurückzuführen, in sich selbst zur Tragödie wurde. Oder ein schändliches Unterfangen.
    Wie misst man die Größe von Tragödien?
    Er notierte ihre absurde Enttäuschung oder ihren Gram, brachte aber nicht mehr die Kraft auf, sich darüber zu entrüsten. Er war nämlich während der Untersuchung oft selbst drauf und dran gewesen, so zu fühlen und zu handeln. Immer wieder hatte er den Menschen aus den Augen verloren und ihn zu einem politischen Argument gemacht, er hatte ständig versucht, die Tragödie zu vergrößern oder zu verringern, er hatte ständig so gehandelt, als beschäftigte er sich mit etwas Abstraktem. Er erinnerte sich noch der ersten Wochen der Untersuchung: seines Entzückens über die Selbstmorde, die er entdeckte, seiner Enttäuschung darüber, dass es nicht mehr waren. Zwei Tote: eine kleine Tragödie. Fünf Tote: eine große Tragödie. Hundert Tote: eine schwere, nationale Kollektivschuld, eine Pestbeule, an die es mit einem Messer heranzugehen galt. Literatur , sehr gut zu gebrauchen.
    Welche Umstände schaffen eine nationale Kollektivschuld?
    Jetzt saß er hier im Park. Er beschäftigte sich mit einem politischen Problem, es ging nicht um Witterungen. Vor kurzem hatte er mit einem der Ausgelieferten gesprochen. Hatte er dabei etwas gelernt? »Wie alt sind Sie?« hatte der Legionär gefragt. Zweiunddreißig Jahre. »Ein zweiunddreißigjähriger Schwede. Ich war damals vierunddreißig. Mein Geburtstag fiel in die Zeit von Ränneslätt, ich sehe alles noch deutlich vor mir. Weiß es noch sehr gut.«
    Wie alt? Zweiunddreißig. Nationalität? Schwede. Beruf? Schriftsteller. Konfession? Moralist. Nationalität und Charakter? Schwedischer Moralist, Schnüffler, Hund, verheiratet, ein Kind. Politische Couleur? Links. Politische Couleur? Linkssozialist. Hat die Untersuchung deinen politischen Standort verändert? Hast du etwas gelernt? Ja, alles. Was soll das heißen? Alles. Wie alt bist du? Zweiunddreißig Jahre.
    Er fühlte keine Schuld, hatte nicht das Gefühl, beteiligt zu sein, aber er hatte allmählich gelernt, sich auch für andere Dinge zu interessieren und nicht nur für sein eigenes Engagement. Und weil ihn das völlig nackt zu lassen schien, fror er oft. Im übrigen schien er meist damit beschäftigt, die Witterung menschlichen Lebens aufzunehmen und zu verfolgen, um herauszufinden, ob Leben und Ideologie miteinander zu vereinbaren waren. So erschien es ihm selbst mit immer größerer Deutlichkeit, unerbittlich deutlich, aber er gab das Schnüffeln trotzdem nicht auf, wenn er auf eine Fährte menschlichen Lebens stieß. Dies nannte er seine nachgebliebene Sentimentalität.
    Der Geruch von Leben. Das Leben strömte unablässig an ihm vorbei. »So wie ein Schiff durch den Nebel fährt, ohne dass der Nebel etwas merkt.« Dies musste ein Zitat von Tranströmer sein. Jedenfalls hatte das Schiff sich dadurch verändert.
    Schließlich ging er zurück ins Hotel. Mitternacht, keine Autos, noch laue Luft. Er ging um ein gigantisches Standbild in der Innenstadt herum, eine Art Freiheitsgöttin, die drei Sterne in den dunklen Nachthimmel hielt. Diese drei bemerkenswerten baltischen Staaten. An einem Droschkenplatz stand eine Schlange von Menschen, die ihn ausdruckslos ansahen. Er ging auf sein Zimmer, holte seine Notizen hervor und begann, sie ins reine zu schreiben. Jahreszahlen, Pfeile, Ereignisse, Analysen. Die Düfte waren verschwunden, die Fragezeichen, die Lust, Mosaiksteinchen zu einem Ganzen zusammenzufügen. Ich könnte noch ein Jahr hierbleiben, ohne mehr verstehen zu können, dachte er wider besseres Wissen und machte das Licht aus. Am nächsten Morgen um neun würde er wieder irgendeine neue oberflächliche Einsicht gewinnen, was die Balten-Affäre betraf. Das war beruhigend. Er konnte jetzt

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