Die Ausgelieferten
schlafen.
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A ls Doktor Elmars Eichfuss-Atvars Schweden verließ, hinterließ er nichts außer einer Anzahl von Briefen und einem Mythos. Der Mythos wuchs und veränderte sich, und da niemand so recht wusste, wer dieser Mann war, sollte er für viele zur eigentlichen Hauptfigur der ganzen Auslieferung werden, zu einer Gestalt, die sich dennoch jedem Zugriff entzog. Der Mythos machte ihn auch zu einem Heiligen. »Lächelnd wandert Dr. Eichfuss-Atvars unter den Rechtlosen umher. Eine magere, aufrechte Gestalt in Khakihosen und einem Soldatenhemd, dickes Haar mit der Farbe reifer Weizenähren; der helle, gepflegte Bart verleiht ihm ein fast priesterhaftes Aussehen, in den rastlos suchenden Augen findet sich ein Widerschein des Meeres: er glaubt unerschütterlich an die Freundschaft der Völker und hält im Lager strenge Manneszucht. Er wird nicht müde, immer und immer wieder den Satz weiterzugeben, schriftlich wie mündlich: ›Wir kämpfen für Gerechtigkeit und Humanität.‹ Mit Ehrfurcht sehen seine Schicksalsgenossen zu ihm auf, mit neugierigem Erstaunen die Fremden. Wer ist er, dieser stolze, kühne, ungebrochene Mann? Ein Heiliger? Ein Hysteriker? Woher nimmt er inmitten dieser bleischweren Trostlosigkeit die Kraft zu einem Lächeln, zum Scherzen? Woher hat er die Fähigkeit zur Suggestion? Wenn er eine Baracke betritt, beruhigen sich die erregten Gemüter. Sein Lächeln wird dankbar erwidert; die Hungernden greifen nach seiner Hand wie nach einem Stück Brot.«
Der Mythos blieb im Land, aber er selbst verschwand. Das letzte, woran man sich erinnert, war dies: wie er mit dem Arm voller Blumen im Auto ankam, wie er auf dem Kai in Trelleborg eine schnelle und informelle Pressekonferenz abhielt, wie er sich von den Polizisten verabschiedete, durch die Sperre ging, die Gangway hinauf, wie er oben an Deck stand, mit lauter Stimme »Danke, Schweden!« rief und hinter den hohen hölzernen Sichtblenden verschwand, die die Russen errichtet hatten. Er trug eine Pelzmütze, machte einen gefassten und vitalen Eindruck, er beherrschte die Szene in jeder Sekunde und lächelte immer wieder.
In diesem Augenblick verschwindet er aus der Geschichte.
Im Lager von Liepaja taucht er wieder auf. Dort scheint er sofort gute Kontakte zum Wachpersonal hergestellt zu haben und als Persönlichkeit von Bedeutung behandelt worden zu sein. Er verkehrt jetzt nur noch mit den sogenannten Antifaschisten des Lagers; mit den baltischen Offizieren kommt er kaum noch in Berührung. Er spricht im russischen Rundfunk und greift dabei die schwedischen Behörden heftig an.
Im Mai 1946 wird er in ein Lager in Riga verlegt, noch immer scheint er einzigartige Privilegien zu genießen. Im Herbst 1946 verliert sich seine Spur.
1948 taucht er wieder auf. Zu diesem Zeitpunkt befindet er sich im Arbeitslager Norilsk im nordöstlichen Sibirien. Norilsk ist eine Stadt, ein Bergwerk, ein Atomwerk. Er ist nicht allein: in derselben Region befinden sich 170.000 Zwangsarbeiter. An einem Tag im Februar 1948 taucht Eichfuss hier auf, er trägt einen hellen, rötlichen Bart und kommt zusammen mit zwanzig anderen Balten an, von denen jedoch keiner zur Gruppe der von den Schweden Ausgelieferten gehört.
Der Mann, der ihn dort sah, heißt Joseph Marton, ein Ungar, der später freigelassen wurde und heute in Västerås lebt und arbeitet. Das Lager lag auf einer Ebene, die von hohen Bergketten umgeben war; die Ebene war fast baumlos. Die Baracken wurden von den Internierten selbst gebaut und waren recht gut. Sie hatten nur den Fehler, dass sie von je siebzig Mann belegt wurden und viel zu klein waren. Die Internierten lagen auf riesigen, langen Betten – zwanzig Mann auf einem Bett –, als hätte man sie auf einem Backtisch ausgewalzt. Diese Betten standen übereinander, und im Winter, wenn es draußen kalt war, wurden die Baracken zu schnarchenden, schmutzigen Rattenlöchern, in denen die Wärme das einzig Positive war. Die ersten Jahre waren die schlimmsten: gegen Ende der vierziger Jahre wurde es etwas besser, und das Leben war erträglich. Die Winter waren furchtbar. In Norilsk war es sehr kalt, es wurden minus 50 bis minus 64 Grad gemessen. Vom Lager aus gingen die Männer jeden Tag zu den Gruben, Werkstätten und Fabriken. Kleidung, warme Kleidung vor allem, war reichlich vorhanden, aber wenn zu der schneidenden Kälte noch der Wind hinzukam, half nichts mehr. Kleidung hatten sie also. Auch genug zu essen, obwohl es äußerst selten vorkam, dass sie sich
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